ANTONIE BIERLING. Er kann mehr als eine Billionen Reize voneinander unterscheiden [1] , warnt uns vor gefährlichen Situationen und kann sogar unsere Gefühle, Erinnerungen und zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen. Und doch wird der menschliche Geruchssinn häufig unterschätzt. Dabei begleiten Gerüche uns überall: der Duft von frisch gemahlenem Kaffee am Morgen, der weihnachtliche Geruch von Kerzen und Gebäck oder der gewohnte Körpergeruch geliebter Menschen. „Gerüche machen unsere Umwelt lebendig und emotional“ [2]. Der Geruchssinn ist ein höchst effizientes Sinnessystem, dessen Verlust eine herbe Beeinträchtigung der Lebensqualität darstellen kann. Dennoch ist er bislang deutlich weniger erforscht als das visuelle und auditive System. Zudem ist es bis heute nicht gelungen, ein künstliches Pendant zur Nase zu entwickeln, das der Komplexität des menschlichen Geruchssinnes gerecht wird. Was macht den Geruchssinn aber so bedeutsam, wozu braucht man eine künstliche Nase und welche Rolle spielt psychologische Forschung für deren Entwicklung?

BEDEUTSAMKEIT DES GERUCHSSINNES

Für viele Spezies ist der Geruchssinn das bedeutsamste aller Sinnessysteme. Riechen ist beispielsweise überlebenswichtig, um Nahrung zu erkennen, Fressfeinde zu vermeiden und Fortpflanzungspartner zu finden [3]. Demgegenüber neigen Menschen dazu, ihrem Geruchssinn weniger Bedeutung beizumessen und übersehen bei der scheinbaren Dominanz visueller und auditiver Reize häufig, welchen Einfluss Gerüche auch auf unser Leben nehmen. Zum einen wäre das die Rolle von Geruch für Geschmack und Appetit. Wer schon einmal bei einer Erkältung eine Weile auf den Geruchssinn verzichten musste, kennt das Gefühl, dass Lebensmittel auf einmal fad und langweilig schmecken. Das liegt daran, dass das Riechen maßgeblich an der Bildung von Geschmack beteiligt ist. Aber nicht nur der Geschmack des eigenen Lieblingsessens wird ohne Geruchssinn getrübt. Der Geruch gibt uns auch eine wichtige Information über die Genießbarkeit von Lebensmitteln. In diesem Sinne erfüllt das Riechen eine wichtige Warn- und Schutzfunktion vor gefährlichen Substanzen. Das ist auch in anderen Situationen essentiell, damit wir z.B. Brandgeruch oder giftige Gase rechtzeitig wahrnehmen, um uns außer Gefahr zu bringen. Darüber hinaus spielt der Geruch eine wichtige Rolle für soziale Kommunikation [4]. Der Ausspruch „sich riechen können“ trifft gleich in vielfacher Weise zu. Körpergerüche beeinflussen romantische Beziehungen, Sexualität und nicht-sexuelle Verbundenheit in Familien [5,6]. Beispielsweise sind Mütter dazu in der Lage, den Körpergeruch ihrer Kinder von dem Geruch fremder Kinder zu unterscheiden und neigen auch dazu, diesen lieber zu mögen [5]. Menschen können sogar anhand des Schweißgeruches sagen, ob es sich um Schweiß handelt, der durch sportliche Betätigung entstanden ist, oder „Angstschweiß“ von Prüflingen bei einer mündlichen Prüfung [7]. Gerüche sind außerdem in besonderem Maße mit Erinnerungen und Emotionen verbunden. Wer kennt nicht den ganz typischen Geruch, der bei den Großeltern an Weihnachten das Wohnzimmer dominiert? Oder etwa die beruhigenden Düfte, die uns bei einem Waldspaziergang begegnen? Wir fühlen uns sofort „zu Hause“, allein durch die vertrauten Gerüche, die uns dort erwarten. Und auch unangenehme Gerüche können sich stark in unser Gedächtnis einprägen und den Verzehr von einem Nahrungsmittel, von dem uns in der Vergangenheit mal schlecht geworden ist, mitunter unmöglich machen. Ohne, dass uns das immer bewusst ist, handelt es sich beim Geruchssinn also um ein Sinnessystem, das viele unserer Lebensbereiche beeinflusst.

WIE FUNKTIONIERT RIECHEN? VOM MOLEKÜL ZUR WAHRNEHMUNG

Genauso wie beim Schmecken handelt es sich beim Geruchssinn um einen chemischen Sinn. Ob und wie Menschen Gerüche wahrnehmen, hängt also davon ab, wie diese chemisch aufgebaut sind. Um überhaupt als „riechend“ wahrgenommen zu werden, müssen Moleküle beispielsweise flüchtig genug sein, um verdunsten zu können. Außerdem muss eine bestimmte Wasser-/Fettlöslichkeit bestehen, damit ein Geruchsmolekül in der Lage ist, die Nasenschleimhaut zu passieren und an Geruchsrezeptoren im olfaktorischen Epithelium zu binden (siehe Box: Anatomie des menschlichen Geruchssinnes)[3]. Gerüche werden außerdem von bestimmten funktionellen Gruppen bestimmt. Zum Beispiel ist bekannt, dass Ester typischerweise einen fruchtigen oder blumigen Duft haben, Fettsäuren „ranzig“ riechen und Aldehyde mit dem Geruch von Gras oder Blättern assoziiert werden [8]. Eine so genaue Zuordnung von chemischer Struktur und korrespondierender Wahrnehmung ist aber nur beispielhaft für einzelne Gerüche oder Molekülgruppen bekannt. Nach welchen globalen Regeln die Wahrnehmung von Gerüchen funktioniert, ist bislang nur unvollständig verstanden. Erschwert wird die Untersuchung dieses Zusammenhangs dadurch, dass die Geruchswahrnehmung als Zusammenspiel aus (u.a.) Wahrnehmungskontext, Erfahrung, und Merkmalen der Persönlichkeit des Individuums entsteht. Der Duft einer Kokosnuss ruft in uns z.B. eine ganz unterschiedliche Wahrnehmung hervor, wenn wir den Geruch mit einem Urlaub am Strand verbinden, als wenn wir den Geruch zuletzt bei der Seife auf einer öffentlichen Toilette wahrgenommen haben. Weitere Einflussfaktoren können auch der aktuelle Körperzustand, z.B. Hunger oder Durst, oder Ort und Erwartungshaltung an den Geruch sein. Schon alleine die Vermutung über die Geruchsquelle kann unsere Wahrnehmung maßgeblich beeinflussen: Derselbe blumige Geruch gefällt uns besser, wenn man uns sagt, er komme von frischen Blumen, als wenn wir davon ausgehen, es handele sich um ein preis‐wertes Parfum [9]. Gerüche sind verglichen mit anderen Sinnesmodalitäten in besonderem Ausmaß mit Emotion und Erinnerung verbunden. Als einziges Sinnessystem umgehen die meisten olfaktorischen Nervenfasern den Thalamus und projizieren direkt in den piriformen Cortex, die Amygdala und den enthorinalen Cortex. Es besteht also eine direkte Verbindung in Areale, die in die Verarbeitung von emotionalen Reizen und Erinnerungen involviert sind [10].

Box: Anatomie des menschlichen Geruchssinnes [10]
Damit wir Gerüche wahrnehmen können, muss es zunächst eine Geruchsquelle geben, die flüchtige organische Verbindungen (volatile organic compounds, VOC) an die Umgebung abgibt. Diese Geruchsstoffe gelangen über die Atmung in die Nasenhöhle. Durch die Nasenschleimhaut gelangen die Geruchsmoleküle dann zum Riechepithel. An den olfaktorischen Zilien, die wie Härchen in die Nasenhöhle ragen, sitzen die olfaktorischen Rezeptoren (OR), an denen die Geruchsmoleküle andocken können. Mithilfe eines G-Protein gekoppelten Mechanismus wird ein Aktionspotenzial ausgelöst und das elektrische Signal wird über die Axone der olfaktorischen Rezeptorneurone (ORN) durch das Siebbein in den olfaktorischen Bulbus weitergeleitet. An jeder ORN befindet sich nur ein Typ von ORs, aber dafür gibt es mehrere ORN-Zellen mit diesem Typ Rezeptor. Alle ORN, die denselben Rezeptortyp exprimieren werden im olfaktorischen Bulbus in denselben sog. olfakto‐rischen Glomeruli gebündelt. In den ca. 2000 menschlichen Glomeruli treffen die Dendriten der ORNs auf die nachfolgenden Mitralzellen, die das Signal über den olfaktorischen Trakt an olfaktorische Areale im Gehirn weiterleiten. Da jeder Rezeptortyp unterschiedlich auf verschiedene Moleküle reagiert, kann anhand des Reaktionsmusters in den Glomeruli ein charakteristisches Muster identifiziert werden, um Gerüche voneinander zu unterscheiden. Für die Erforschung der Funktionsweise des olfaktorischen Systems erhielten Linda Buck und Richard Axel 2004 den Nobelpreis in Medizin.

RIECHEN UND LEBENSQUALITÄT

Welchen Verlust an Lebensqualität ein beeinträchtigter Geruchssinn darstellen kann, erleben seit einigen Monaten viele Menschen, die sich von einer Covid-19 Erkrankung erholen. Ohne Geruchssinn schmeckt das Lieblingsessen nicht mehr, wir können nicht schon im Wohnzimmer riechen, dass die Pizza im Ofen verbrennt oder verdorben riechende Lebensmittel wegwerfen. Da Riechstörungen (siehe auch Box: „Riechstörungen“) in der Regel nicht lebensbedrohlich sind, wird die Behinderung im Alltag der Patient*innen häufig unterschätzt. Studien zur Lebensqualität bei Riechstörungspatient*innen [4] zeigten, dass Probleme im Zusammenhang mit Ernährung und Appetit eine wichtige Rolle spielen. 69% der Betroffenen geben an, weniger Freude am Genuss von Nahrungsmitteln zu haben, 27-56% berichten einen verringerten Appetit und 49-73% haben Schwierigkeiten bei der Essenszubereitung. Um den Genuss beim Essen zu steigern, kann es Menschen mit Riechstörungen helfen, Mahlzeiten durch andere Wahrnehmungsdimensionen abwechslungsreicher zu gestalten, z.B. durch unterschiedliche Konsistenzen oder Farben. [4] Aber auch die Sorge um die persönliche Sicherheit treibt viele Patient*innen um: Die Angst, Brandgeruch oder Gaslecks nicht rechtzeitig entdecken zu können, beschreiben 61% der Betroffenen als problematisches Risiko in ihrem Leben. Eine große Schwierigkeit resultiert außerdem durch die fehlende Wahrnehmung des eigenen Körpergeruchs (41%) [4]. In unterschiedlichen Studien gaben 19-36% der Betroffenen sogar an, dass die Sorge um die eigene Körperhygiene die größte Einschränkung durch die Riechstörung darstellt [4]. Möglicherweise hängt dies auch eng mit sozialen Aspekten zusammen, die von ca. 30% als beeinträchtigt erlebt werden. Menschen, die von Geburt nicht riechen können, oder ihren Geruchssinn durch Krankheit oder Unfall verloren haben, riechen es nicht, wenn sie nach einer Radtour verschwitzt sind. Auch die Hygiene der eigenen Kinder, etwa, ob die Windel schon wieder voll ist, stellt Riechstörungspatient*innen für größere Herausforderungen [4].

Riechstörungen [4,10-15]

Erworbene und kongenitale Anosmie
Der Verlust der Geruchswahrnehmung, genannt Anosmie, tritt in der Allgemeinbevölkerung mit einer Prävalenz von etwa 20% auf. Typischerweise werden Riechstörungen durch postvirale Infektionen der oberen Atemwege (18-45%) oder Erkrankungen der Nase/Nasenebenhöhlen (7-56%) verursacht. Riechverlust kann aber auch die Folge von Kontakt mit Giftstoffen und Drogen sein (2-6%) oder durch Kopfverletzungen (8-20%) ausgelöst werden [4]. Viele Fälle von Riechstörungen sind reversibel; zum Beispiel nach Atemwegserkrankungen erholt sich der Geruchssinn häufig von selbst wieder. In manchen Fällen kann das Riechvermögen abhängig von Ursache und Schweregrad durch gezielte Riechtrainings, medikamentöse Behandlungen oder auch operative Eingriffe regeneriert werden. Bei schätzungsweise einer Person aus 5000-10.000 liegt eine sogenannte kongenitale Anosmie vor; das heißt, diesen Menschen fehlt der Geruchssinn von Geburt an [4]. Die Ursache dafür liegt typischerweise in den für das Riechen zentralen Hirnstrukturen begründet, z.B. durch einen unterentwickelten olfaktorischen Bulbus [4]. Menschen mit kongenitaler Anosmie bemerken ihr fehlendes Riechvermögen häufig lange Zeit nicht. Typischerweise wird die Erkrankung etwa im 10. Lebensjahr bemerkt und die Diagnose meist sogar erst im Erwachsenenalter gestellt [4].

Altersbedingte Hyposmie und neurodegenerative Erkrankungen
Typischerweise zeigt sich mit zunehmendem Alter ein Abfall des Riechvermögens (Hyposmie), der in der Regel nicht reversibel ist. Riechverlust sollte als Symptom trotzdem in jedem Alter ernst genommen werden, da olfaktorische Störungen mit verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen zusammenhängen können. Beim Parkinson-Syndrom zum Beispiel, geht eine Riechstörung fast immer den motorischen Störungen voraus, meistens sogar mit ca. 4-6 Jahren Vorlauf. Häufig werden Riechstörungen außerdem bei Formen der Demenz, z.B. der Alzheimer-Demenz angetroffen [10].

Spezifische Anosmie
Neben dem allgemeinen Verlust des Riechvermögens versteht man unter der Spezifischen Anosmie die Unfähigkeit, einen ganz bestimmten Geruch wahrzunehmen bei ansonsten intaktem Riechvermögen. D.h., dass man zum Beispiel alles riechen kann, außer Vanille. Spannenderweise haben Hochrechnungen ergeben, dass wahrscheinlich jeder Mensch für mindestens einen Geruch anosmisch ist, sodass Spezifische Anosmie möglicherweise der Normalfall, kein Störungsfall ist [11].

Parosmie und Phantosmie [4,10]
Etwa 1-4% der Bevölkerung zeigen qualitative Störungen des Geruchssinnes [4]. Bei der Parosmie ist die Wahrnehmung eines Geruches verzerrt, z.B. könnte die Tasse Kaffee für Betroffene nach Abwasser riechen. Parosmien sind dabei typischerweise negativ, d.h. ein Geruch wird als unangenehmer wahrgenommen als von den meisten anderen Menschen [10]. Die Phantosmie bezeichnet das Phänomen, dass Gerüche in Abwesenheit einer Geruchsquelle wahrgenommen werden und tritt meistens nach Verletzungen auf. Auch hier werden eher unangenehme Gerüche wahrgenommen. Zusammenhänge mit psychiatrischen oder neurologischen Störungsbildern sind möglich, müssen aber nicht vorliegen [4]. Die Ursache für beide Störungsbilder ist bislang ungeklärt [10].

Riechstörungen bei einer Infektion mit Covid-19
Sehr viele Patient:innen, die unter einer Covid-19 Erkrankung leiden, klagen über mindestens zeitweisen Verlust des Geruchssinnes. Bei einigen Fällen dauert die Regeneration des Geruchssinnes sogar weitaus länger als das Abklingen der eigentlichen Infektion [13]. Das liegt daran, dass im Gegensatz zur normalen Erkältung die Nase nicht (notwendigerweise) „nur“ verstopft ist, sondern das Virus Zellen nahe des Riechepithels angreift. Während anfangs angenommen wurde, dass direkt olfaktorische Nervenzellen angegriffen werden, geht man inzwischen davon aus, dass das umgebende Stützgewebe befallen wird [14]. In tierischen und menschlichen Proben konnten zwei Gene festgestellt werden, die das Eindringen von Sars-Cov-2 in die Zellen des Riechepithels beeinflussen: ACE2 und TMPRSS2. Beide Gene kodieren für Enzyme, die typischerweise in Stamm- und Stützzellen gefunden werden [14]. Es wird angenommen, dass das Virus durch das Eindringen in diese Zellen lo‐ kale Entzündungen verursacht[15]. Dadurch entstehen Schwellungen, die dann den Weg der Geruchsmoleküle zu den Rezeptoren im Riechepithel blockieren könnten, ohne, dass dabei die Atemwege der Nase beeinträchtigt werden. Das würde auch erklären, warum der Geruchsverlust bei manchen Patient:innen so plötzlich kommt und teils genauso schnell wieder verschwindet [13]. Bei anhaltender Riechstörung durch Covid wird vermutet, dass bei der Entzündungsreaktion sog. Zytokine zur Bekämpfung des Virus angelockt werden, die dabei ggf. auch olfaktorische Nervenzellen schädigen [13]. Deren Regeneration und Neubildung ist langwieriger und häufig treten im Verlauf des Heilungsprozesses auch Parosmien auf, bevor sich der Geruchssinn wieder erholt. Um die „Verknüpfung zwischen Gedächtnis und Geruch zu stimulieren“, kann ein Riechtraining mit ätherischen Ölen helfen, die mehrfach täglich intensiv eingeatmet werden [16] .

RIECHEN UND DEPRESSION

Über die alltäglichen Probleme hinaus haben sich viele Untersuchungen mit dem Zusammenhang zwischen Riechstörungen und dem Auftreten psychischer Störungen, insbesondere der Major Depression, auseinandergesetzt [2, 17-19]. Aufgrund der alltäglichen Beeinträchtigungen ist es leicht anzunehmen, dass Riechstörungspatient*innen depressive Symptome entwickeln könnten. Der Zusammenhang scheint jedoch darüber hinaus auch durch neuronale Strukturen erklärbar zu sein. Im Tierversuch zeigte sich, dass die beidseitige Zerstörung des olfaktorischen Bulbus zu veränderten Serotonin- und Dopamin-Konzentrationen und depressivem Verhalten führen kann [2]. Auch bei Menschen konnte mittels funktioneller Bildgebung gezeigt werden, dass Unterschiede in der olfaktorischen Verarbeitung zwischen Gesunden und Depressiven bestehen, und dass diese durch eine Psychotherapie „behoben“ werden können [17]. Tatsächlich gibt es sogar Anhaltspunkte dafür, dass depressive Symptome durch Riechtrainings verringert werden können. Ein 5-monatiges Riechtraining bei älteren Menschen, die typischerweise über ein verringertes Riechvermögen verfügen, führte zu einer deutlichen Verbesserung der Riechfähigkeit und einer Reduktion von depressiven Symptomen, während dies bei einer Kontrollgruppe, die stattdessen Sudokus löste, nicht der Fall war [18]. Es wird angenommen, dass dieser Zusammenhang durch die anatomische Überlappung mit Arealen der Emotionsverarbeitung bedingt wird [2]. Interessanterweise konnte gezeigt werden, dass das Volumen des olfaktorischen Bulbus bei psychiatrischen Patient*innen um 13,5% verringert ist [19]. Menschen mit einem verringerten Bulbus-Volumen könnten folglich ein größeres Risiko haben, an einer Depression zu erkranken [2].

WOZU BRAUCHT MAN ELEKTRONISCHE NASEN? [20]

Versuche, den Geruchssinn in elektronischen Sensoren abzubilden, gibt es seit mehr als drei Jahrzehnten. Denn: potentielle Anwendungsfelder gibt es zahlreiche. Eine naheliegende Anwendung, wenn man die verringerte Lebensqualität bei Riechstörungen bedenkt, liegt bei medizinischen Apparaturen. Auch wenn serienreife Riechimplantate aktuell noch Zukunftsmusik sind, könnten solche Geräte eine Verbesserung der Lebensqualität von Riechstörungspatient*innen ermöglichen. Ein sinnvolles Hilfsmittel für diese Patient*innen könnte aber auch schon eine nicht implantierte elektronische Nase sein. Diese könnte beispielsweise an Lebensmittel oder Klamotten gehalten werden, um deren Geruch zu beurteilen, oder sie könnte vor Brandgeruch warnen. Es gibt jedoch noch vielfältige weitere Anwendungsgebiete, von der Gefahrenstoffdetektion, wie der „Erschnüffelung“ von Sprengstoff oder Drogen, über Anwendungen in der Lebensmittelindustrie bis hin zur Gestaltung des „Smart Home“ der Zukunft. In der Lebensmittelbranche wird bereits seit langem mit e-Nose-Technologie geforscht. E-Noses können helfen, die Haltbarkeit und Lagerungsbedingungen von Lebensmitteln zu optimieren und somit auch die Verschwendung von Lebensmitteln zu reduzieren. Das wäre auch im heimischen Kühlschrank von Vorteil. Man kann sich leicht ein Smart Home der Zukunft vorstellen, in dem der Kühlschrank weiß, wann die Lebensmittel ablaufen, oder der Backofen merkt, wenn die Pizza anbrennt (QualityLand lässt grüßen). Erforscht wird der Einsatz von e-Nose-Technologie beispielsweise auch bei der Herstellung einer angenehm riechenden Luft in Leihautos. Und schließlich wird höchstaktuell die Verwendung von elektronischen Nasen in Diagnostik von Covid-19 getestet. Da Körpergerüche den metabolischen Zustand einer Person widerspiegeln, können auch durch Krankheiten veränderte Stoffwechselprozesse anhand des Körpergeruchs bestimmt werden. Die Verwendung elektronischer Nasen zur Entdeckung dieser Veränderung wird bereits von namhaften Forschungsgruppen in der Praxis erprobt [21]. Diese Aufzählung ist dabei nur ein Ausschnitt aus einer Reihe an denkbaren Anwendungen. Wie aber funktionieren elektronische Nasen?

WIE FUNKTIONIEREN E-NOSES?

Die meisten e-nose Prototypen oder auch bereits im Markt befindlichen Modelle zielen darauf ab, bekannte Gerüche anhand ihrer chemischen Eigenschaften zu erkennen. Die Geruchsmoleküle binden hierfür auf unterschiedlichen Sensortypen oder Sensoranordnungen – analog zum menschlichen Geruchssinn. Die e-nose misst dann das chemische Verhalten der Geruchsmoleküle, z.B. die Stärke der Bindung zu unterschiedlichen Sensortypen. Bei der französischen e-nose Firma Arryballe Technologies werden beispielsweise unterschiedliche Typen von Biosensoren auf einer Oberfläche angeordnet. Je nachdem, wie stark das Geruchsmoleküls an die Biosensoren bindet, ergibt sich daraus ein charakteristisches Reaktionsmuster, das mithilfe von Licht sichtbar gemacht und von einer Kamera aufgezeichnet wird [22]. Alternativ ist es auch möglich, andere physikalische Eigenschaften, wie z.B. den elektrischen Widerstand des Sensormaterials, als Signal messbar zu machen (weitere Infos siehe Box: Exkurs in die Materialwissenschaft). Ein Geruch kann schließlich identifiziert werden, indem das Reaktionsmuster mit einer Datenbank abgeglichen wird, in der bereits bekannte Muster von Geruchsmolekülen abgespeichert sind. Diese Zuordnung ist in der Praxis durchaus komplex. Meistens kommen dafür Methoden wie maschinelles Lernen zum Einsatz, das heißt, ein Klassifizierungsalgorithmus wird mithilfe von bereits bekannten Zuordnungen (Trainigsdaten) darauf trainiert, unbekannte Muster (Testdaten) korrekt zu identifizieren.

Box: Exkurs in die Materialwissenschaft
Welche Materialien für den Sensorbau von e-Noses eingesetzt werden und welche Signale schließlich als Reaktionsmuster interpretiert werden, ist je nach Firma und Forschungsgruppe unterschiedlich und hängt auch maßgeblich davon ab, wozu die elektronische Nase am Ende eingesetzt werden soll. Einige Forschergruppen orientieren sich möglichst nah am menschlichen oder tierischen Vorbild und verwenden beispielsweise die geruchsbindenden Proteine (odorant-binding proteins) von Insekten wie der Honigbiene [20,23]. Andere Ansätze beschäftigen sich stärker mit der Optimierung des Sensormaterials, damit die Sensoren zum Beispiel eine möglichst kompakte Größe aufweisen, umweltfreundlich oder besonders vielseitig einsetzbar sind. So auch das Team um Prof. Gianaurelio Cuniberti des Lehrstuhls für Materialwissenschaft und Nanotechnologie an der Technischen Universität Dresden, welches an Graphen-basierten Sensoren arbeitet. Graphen bezeichnet eine zweidimensionale Struktur aus Kohlenstoff, in der die Kohlenstoffatome eine bienenwabenförmige Anordnung einnehmen [24]. Dieses Material bietet somit eine größtmögliche Oberfläche und vielseitige Möglichkeiten, um diese Oberfläche so zu modifizieren, dass sie mit bestimmten organischen Verbindungen wie Geruchsmolekülen interagieren kann.Solche Überlegungen sind nicht nur für die Grundlagenforschung wichtig, sondern spielen auch eine große Rolle für medizinische und kommerzielle Anwendungen. Schließlich dürfte ein Riech-Implantat eine gewisse Größe nicht überschreiten und das verwendete Material sollte eine möglichst lange Haltbarkeit aufweisen.

VON DER MOLEKÜLDETEKTION ZU INTELLIGENTEM KÜNSTLICHEN RIECHEN

Dieser analytische Ansatz der Geruchsdetektion kommt so oder in ähnlicher Form in fast allen bisherigen elektronischen Nasen zum Einsatz und kann in der Regel mit einer Akkuratheit von (nahe) 100% Gerüche identifizieren, die sich bereits in einer entsprechenden Datenbank befinden. Dennoch ist dieses Prinzip noch weit von der vollen Funktionalität des menschlichen Geruchssinnes entfernt. Wenn wir an unserem morgendlichen Kaffee riechen, haben wir keine Ahnung davon, welche Moleküle sich in der Luft befinden, oder ob es sich um eines oder mehrere Moleküle handelt, die erst als komplexes Duftbouquet den typischen Kaffeegeruch erzeugen. Zudem spielen für menschliches Riechen neben der sensorischen „bottom-up“ Information auch „top-down“-Prozesse eine entscheidende Rolle – also, welche Erfahrungen wir mit dem Geruch verbinden, in welchem Kontext wir ihn riechen und von welcher Erwartungshaltung wir vielleicht bestimmt werden. Diese top-down-Einflüsse finden bei elektronischen Nasen bislang wenig Berücksichtigung. Wenn man jedoch an Anwendungsfälle denkt, bei denen zum Beispiel ein angenehmer Duft erzeugt werden soll (zum Beispiel für die Entwicklung von Raumdüften oder Aromastoffen), dann ist es auch notwendig, menschliches Erleben stärker miteinzubeziehen. Der Lavendel-Duft einer Seifenmarke mag angenehm auf einer Toilette sein, aber derselbe Geruch würde aus dem Kühlschrank wohl eher für Irritation sorgen. Eine intelligente künstliche Nase könnte beispielsweise nicht nur den Geruch einer Erdbeere erkennen, sondern gleichzeitig beurteilen, ob dies ein angenehmer Geruch ist oder das Lebensmittel noch haltbar ist. Außerdem wären Personalisierungen denkbar, die sich je nach bisherigen Erfahrungen mit Gerüchen an die individuelle Person anpasst – vielleicht sogar ähnlich wie beim Musik- oder Modegeschmack? Aber auch die Rolle von Persönlichkeitseigenschaften auf das Riechvermögen oder genetische Dispositionen, die zu unterschiedlicher Exprimierung olfaktorischer Rezeptoren führen können, müssen erforscht werden, um eine elektronische Nase „mit Gehirn“ zu bauen. Für dieses Vorhaben ist jedoch noch einiges an Forschung mit Expert*innen unterschiedlicher Fachrichtungen notwendig: von medizinischem Wissen über die Anatomie des olfaktorischen Systems, über Chemiekenntnisse der Geruchsmoleküle, bis hin zur Sensortechnologie (siehe Box: Projekt „Olfactorial Perceptronics“). Die psychologische Sichtweise darf dabei auf keinen Fall fehlen. 

Box: Projekt „Olfactorial Perceptronics“
Für die Entwicklung einer intelligenten künstlichen Nase ist Forschung in einem interdisziplinären Setting notwendig. Diese Strategie verfolgt das Forschungsprojekt „Olfactorial Perceptronics“ in Dresden. Perceptronics steht dabei als Wortschöpfung für „perceptive electronics“, also Wahrnehmung und Elektronik. Zielstellung des Projekts ist es, eine innovative Verbindung zwischen elektronischen Sensoren und menschlicher Wahrnehmung zu ermöglichen. Zu diesem Zweck arbeitet die Gruppe mit Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen zusammen, insbesondere aus der Sensortechnologie, Medizin und Psychologie. Das Projekt ist ein Teil der von der VolkswagenStiftung geförderten Initiative „Kurswechsel“. Die Initiative unterstützt Projekte, die im Austausch zwischen Natur- oder Technikwissenschaften und Lebenswissenschaften forschen.

Prof. Gianaurelio Cuniberti, der das Projekt gemeinsam mit Mediziner Prof. Thomas Hummel vom Interdisziplinären Zentrum für Riechen und Schmecken am Universitätsklinikum in Dresden koordiniert, sieht in der interdisziplinären Herangehensweise große Chancen für das Feld: „Das visionäre Konzept einer künstlichen Nase bringt physiologische und psychologische Aspekte der Wahrnehmung mit den jüngsten Entwicklungen in der Elektronik zusammen. Ein Durchbruch der Wahrnehmungselektronik kann nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Wissenschaft, Technik und Medizin gelingen, die stringent auf den jüngsten Fortschritten in Nanotechnologie und künstlicher Intelligenz aufbaut.“ Neben Cuniberti sind weitere Wissenschaftler*innen des Institutes für Werkstoffwissenschaft am Projekt beteiligt, die ihre Expertise zum Thema Simulation und Computational Modeling (Dr. Alexander Croy) und zur Entwicklung von Nanobiosensoren für die Anwendung im Gesundheitswesen (Dr. Bergoi Ibarlucea) einbringen. Psychologisches Fachwissen bringen schließlich Jun.-Prof. Ilona Croy und Doktorandin M.Sc. Antonie Bierling in das Projekt ein. Prof. Croys Arbeit konzentriert sich darauf, wie verschiedene stimulierende Inputs von der menschlichen Sensorik in die Wahrnehmung übertragen werden. Weitere zukünftige Kooperationen und ein Austausch mit Institutionen aus Wissenschaft und Industrie werden angestrebt.

Aktuell befindet sich das Projekt in einer anderthalbjährigen Planungsphase, um ein Konzept für eine langfristige Zusammenarbeit zu entwickeln. Das könnte beispielsweise im Rahmen eines strukturierten Promotionsprogrammes geschehen, bei dem Doktorand*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen gemeinsam an dem Projekt arbeiten. Weitere Informationen zum Projekt finden sich auf der Homepage unter https://perceptronics.science/.

QUELLEN

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