MAIKE BORCHARDT. Das Privileg, im Rahmen meiner Asienreise für zwei Monate in Japan zu leben, gab mir die Möglichkeit, die japanische Kultur und gesellschaftlichen Werte besser kennenzulernen. Ich war sehr überrascht, wie meine ursprüngliche Begeisterung für die japanische Kultur und einzigartige Natur im Laufe meines Aufenthalts mehr und mehr von kritischen Eindrücken ergänzt wurde. Ich habe viele gedankenanstoßende Beobachtungen und Gespräche über gesellschaftlich-soziale Probleme und psychologische Phänomene machen können, die in mir eine paradoxe Haltung zu diesem Land wachsen ließen. Einige dieser psychologischen Phänomene möchte ich in diesem Artikel beschreiben. Ich möchte betonen, dass diese Gedanken durch meine subjektiven Eindrücke, durch alltägliche Beobachtungen und durch Interaktionen mit einigen anderen Japaner*innen oder in Japan lebenden Menschen entstanden sind.

Die Mentalität von „Honne und Tatemae“ ist wohl das Phänomen, was mir seit meiner Ankunft in Japan am meisten in den verschiedensten Situationen begegnet ist – daher gibt es wahrscheinlich auch einen spezifischen japanischen Ausdruck für diese Mentalität. „Honne“ (jap. 本音) bedeutet so viel wie echtes oder authentisches Gefühl, welches die Japaner*innen im Alltag in den meisten Fällen hinter „Tatemae“ (jap. 建前), einer Fassade oder Maske, verstecken. Statt die wahren Gefühle oder Bedürfnisse zu offenbaren, wird eine Art unauthentische Maske voller Freundlichkeit und Höflichkeit vor allem in der Öffentlichkeit getragen. In seltenen Fällen wird Honne vor engen, vertrauensvollen Freund*innen gezeigt, aber über den Großteil der Zeit wird die Maske getragen. Die langfristige Problematik ergibt sich vor allem durch die fehlende Übereinstimmung von Tatemae und Honne, da die nach außen gezeigten Gefühle im Gegensatz zu den „echten“ stark voneinander abweichen können. Man möchte im Gegenüber keine Verärgerung provozieren oder einen Konflikt verursachen. Die soziale Harmonie („wa“) wird höher priorisiert und soll durch das Verstecken der echten Gefühle und das Nichtäußern einer kritischen oder abweichenden Meinung aufrechterhalten werden [1]. So sollen beispielsweise auch Stolz und Selbstbewusstsein hinter einer Fassade von Demut und Bescheidenheit versteckt werden. Für ein Kompliment über das Aussehen sollte man sich beispielsweise nicht bedanken, sondern abstreiten, dass es der Realität entspreche. Unfaire oder schwierige Bedingungen am Arbeitsplatz werden vor dem/der Chef*in nicht oder selten thematisiert, sondern ebenfalls hinter einer Fassade von Freundlichkeit und Loyalität verborgen. Psychische Belastungen werden nicht angesprochen, da sie im Gegenüber ein Unwohlsein verursachen und die soziale Schein-Harmonie gefährden würden. Ich persönlich habe die Erfahrung mit Tatemae gemacht, wenn ich unbeabsichtigt ein Verhalten gezeigt habe, welches in geringem Maße von den impliziten sozialen Normen abwich. In diesem Fall hat mich niemand auf mein Verhalten zur Korrektur hingewiesen, da dies als konfrontativ und unangenehm empfunden werden würde. Aus historischer Perspektive haben Honne und Tatemae die japanische Gesellschaft schon seit dem 8. bis 12. Jahrhundert (Heian-Epoche) geprägt [2]. Heutzutage ist diese Mentalität in allen Bereichen von Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft bis zu verschiedensten Formen der Kommunikation wiederzufinden [1]. 

Natürlich habe ich einige der eben genannten Beispiele zugespitzt dargestellt, aber sie sollen meinen Eindruck von Japan verdeutlichen. Aufgrund von Honne und Tatemae habe ich mich in einigen Situationen sehr unwohl gefühlt, weil ich mir eine authentische Reaktion meines Gegenübers gewünscht hätte, um diese Person besser kennenzulernen oder mich – im Falle eines nicht intendierten Fehlverhaltens – an Regeln anpassen könne. Auf andere Weise ausgedrückt: Oft war mir die gespielte Freundlichkeit und Höflichkeit einfach zu viel, da ich keine „echte“ Verbindung zu meinem Gegenüber aufbauen konnte. Das hat dazu beigetragen, dass ich zu Beginn meines Japan-Aufenthalts eine Art Kulturschock erlebt habe, den ich in einem modernen und digitalisierten Industriestaat wie Japan weniger erwartet hatte. 

Das Tragen einer Maske zum Verstecken der echten Gefühle kann in einer leistungsorientierten Gesellschaft wie Japan Versagensängsten schüren, die mentale Belastung im Allgemeinen erhöhen und in einigen Fällen zu „Hikikomori“ führen. Dieses Phänomen des sozialen Rückzugs aus Schule oder Arbeit tritt zwar selten auf, aber ist besonders für die japanische Kultur typisch. Betroffene mit Hikikomori verbringen den Großteil ihres Alltags zu Hause und haben kein Interesse oder Motivation, in die Schule oder auf die Arbeit zu gehen. Damit geht auch eine Reduktion sozialer Kontakte zu Freund*innen oder Familienmitgliedern einher. Es können Symptome auftreten, die einer Depression, Angst (u.a. soziale Phobie), Schizophrenie, Entwicklungsstörungen oder einer vermeidenden oder schizoiden Persönlichkeitsstörung nahe kommen [3]. Um eine Abgrenzung von diesen Differenzialdiagnosen vornehmen zu können, gab es bereits Vorschläge für DSM-5-Diagnosekriterien für Hikikomori als kulturgebundenes Syndrom [3]. Der japanische Psychologe Nicolas Tajan argumentiert jedoch dafür, Hikikomori weniger als psychische Störung, sondern eher als Form des passiven Widerstands auf die Belastungen des Bildungssystems und der Gesellschaft zu betrachten [4]. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass diese klinisch-psychologische Symptomatik nicht nur ausschließlich in Japan und damit als kulturgebundenes Phänomen auftritt, sondern teilweise auch in anderen Ländern wie etwa Spanien, Australien, Thailand, Korea und Taiwan [5]. Neben der gesellschaftlichen Belastung spielen natürlich auch andere Faktoren wie etwa schwierige Familienverhältnisse (u.a. häufige Abwesenheit des Vaters) oder die finanzielle bzw. berufliche Situation bei der Entstehung von Hikikomori eine Rolle. Etwa 0.9-3.8% der Japaner*innen berichten darüber, schon einmal in ihrem Leben Hikikomori-Symptome erlebt zu haben [6].

Jede*r von uns hat bestimmt bereits über die strenge und kollektivistische Arbeitskultur in Japan gehört. Es scheint das Normalste der Welt zu sein, Überstunden zu machen, bis in die Nachtstunden zu arbeiten und trotz offiziellem Anspruch auf Urlaub auf Reisen zu verzichten, um den Kolleg*innen nicht zur Last zu fallen. Die Äußerung individueller Bedürfnisse wird als egoistisch und nicht bescheiden betrachtet, was gegen die Harmonie der Gruppe spricht. Es wird erwartet, dass eigene Wünsche und Bedürfnisse (also Individualismus im weiteren Sinne) für die Gesellschaft und den kollektivistischen Teamgeist aufgegeben werden. Außerdem spielen Hierarchien eine sehr große Rolle: Es ist wichtig, dass gegenüber älteren Senior*innen oder länger arbeitenden Kolleg*innen Respekt gezeigt wird. Da sich in der Vergangenheit der Lohn vor allem an der Anzahl der Arbeitsjahre in einem Unternehmen oder in einer Organisation orientierte, versuchen auch bis heute viele Arbeitende, ihren Job unter schlechten Arbeitsbedingungen nicht zu kündigen und ausgeprägte Loyalität nach außen zu vermitteln [7]. Die Kündigung eines Jobs gilt generell als unüblich, da sie den sozialen Ruf einer Person stark schädigen kann. Die streng konservative, hierarchische und kollektivistische Arbeitskultur führt in einigen Fällen zu „karōshi“ (jap. 過労死;Tod durch Überarbeiten, z. B. über kardiovaskuläre Krankheiten durch Stress, oder Mangelernährung)oder „karo jisatsu“ (jap. 過労自殺; Suizid durch Überarbeiten durch zu hohe psychische Belastung) [8] [9]. Laut aktuellen Zahlen des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales ist der Anteil an Arbeitenden mit mehr als 60 Arbeitsstunden pro Woche seit der Corona-Pandemie in vielen Arbeitsbereichen deutlich gesunken, in anderen jedoch auch leicht gestiegen [10]. 

In Japan ist die Vermeidung von Alkoholkonsum schwierig – es gehört selbstverständlich dazu, nach einem Arbeitstag zu einer „Nomikai“ zu gehen. Eine Nomikai ist eine Art Trinkparty mit Chef*in und Kolleg*innen, welche meist regelmäßig wöchentlich stattfindet und unter Umständen bis in die Morgenstunden dauern kann. Manchmal gehen die Angestellten nach einer Nomikai gar nicht erst nach Hause, sondern direkt wieder auf Arbeit. Diese arbeitsbezogenen Trink-Veranstaltungen dienen nach außen hin hauptsächlich dem Networking und dem Aufstieg auf der Karriereleiter [7]. Allerdings ist in der jüngeren Generation schon häufiger Widerstand gegen diese Trinkkultur zu beobachten. Neben dem Effekt eines entspannteren Auftretens im sozialen Kontext wird das Trinken bei männlichen Arbeitern jedoch auch als Ausdruck ihrer Männlichkeit gesehen [11]. 

Aus Erzählungen mit in Japan wohnenden Menschen ist mir vor allem das konservative Rollenbild der Frauen aufgefallen. Auch wenn sich dieses Bild in den letzten Jahren schon leicht zu ändern scheint, ist es nach wie vor eher unüblich, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes arbeiten gehen. Normalerweise übernimmt die Mutter die Rolle der Hausfrau und der fest angestellte Vater kümmert sich um das finanzielle Einkommen der Familie. Generell sind Frauen sehr selten in höheren beruflichen Positionen anzutreffen, da diese meist für die Männer vorgesehen sind. 

Bisher habe ich vor allem die von mir eher kritisch erlebten Seiten Japans beleuchtet, und möchte zum Abschluss gern noch ein eher positives Gegenbeispiel bringen: Vielleicht haben einige von euch bereits gehört, dass die sehr weit südlich von den Hauptinseln Japans liegende Insel Okinawa eine der insgesamt fünf „Blue Zones“ dieser Erde ist. Blue Zones sind Gebiete, in denen die Lebenserwartung der dort lebenden Menschen höher als der Durchschnitt ist. Auf Okinawa liegt die Anzahl Hundertjähriger auf 100.000 Personen mit 81 um Einiges höher ist als auf den Hauptinseln Japans (48 Hundertjährige auf 100.000 Personen) [12]. Doch was für einen Lebensstil haben die Inselbewohner*innen Okinawas, wenn sie so alt werden? Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, die zum Teil die oben genannten psychologischen Phänomene stark kontrastieren: Die hauptsächlich pflanzenbasierte Ernährung, das Prinzip „hara hachi bu“ (= Magen bei jeder Mahlzeit nur zu 80% füllen) und der weitestgehende Verzicht auf Alkohol und Tabak ermöglichen langfristig einen Ausgleich oder sogar ein leichtes Minus an Kalorienzufuhr sowie insgesamt eine gesunde Ernährungsweise auf Okinawa. Neben einer gesunden Ernährung sind ein hohes mentales und körperliches Aktivitätslevel auch im hohen Alter, sowie das Pflegen eines stabilen sozialen Netzwerks unter Freund*innen und Familie typisch für Okinawa. Die Inselbewohner*innen fallen ebenfalls durch ihre entspannte Lebensweise mit hoher Stressresilienz und durch ihre ausgeprägten Vorstellungen zu „ikigai“ (= Erfüllung durch Lebenssinn finden) auf, welche zu einer hohen Lebenserwartung beitragen können. Ein weiterer Faktor stellt die Spiritualität durch die indigene Religion dar: Die Bewohner*innen Okinawas haben einen festen Glauben an die spirituelle Energie in allem, sodass sie in ausgeprägter Verbundenheit zur Natur und zu ihren Angehörigen früherer Generationen leben [12] [13]. 

Auch wenn ich mit der Lebensweise auf Okinawa ein Gegenbeispiel für die zuvor genannten, eher kritischen Aspekte psychologischer Phänomene Japans gegeben habe, fokussiert dieser Artikel hauptsächlich auf negativ konnotierte Aspekte. Ich möchte betonen, dass ich damit keinesfalls die Intention habe, Japan in „schlechtem Licht“ darzustellen. Es gibt viele weitere, positiv konnotierte und faszinierende Seiten Japans, die ich mit diesem Artikel nicht abdecke. Ich wollte vor allem die kritischen Aspekte herausstellen, da ich sie während meiner Reise in Japan nicht in diesem Ausmaß erwartet hätte. Aber vielleicht bekommt ihr Lust, nach Japan zu reisen und euch selbst ein Bild zu machen, falls ihr noch nicht dort wart!