YVONNE FRIEDRICH. Du sparst Strom, kaufst Fairtrade und in deiner Freizeit hilfst du bei der Tafel? Bringt alles nichts, sagt der Effektive Altruismus. Er hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst viel Gutes in der Welt zu bewirken. Soweit nichts Neues. Aber anders. Wissenschaftlich abgesichert, rational abwägend und Kalkül statt emotionsbasiert. Er beschreibt sich als Ansatz, der Kopf und Herz verbindet.
Dabei erscheint er zunächst sehr kopflastig. Die ökonomische Ausgangslage legt er in die Begrenztheit unserer Ressourcen Zeit und Geld. Nun fragt sich der Effektive Altruismus, im Folgenden EA abgekürzt (um der Effizienz der Effektivität Rechnung zu tragen): Wie können Zeit und Geld so eingesetzt werden, dass sie den maximal positiven Effekt erzielen? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Abwägung von Kosten und Nutzen. Aufseiten des Nutzens fordert er die wissenschaftliche Untersuchung von Wirksamkeit. Aufseiten der Kosten betrachtet er, wofür die Ressourcen Zeit und Geld alternativ eingesetzt werden könnten. Das bietet eine neue Perspektive im Vergleich von verschiedenen Hilfsorganisationen, Berufen und Konsumverhalten. Die konkreten Implikationen werden in den ersten drei Abschnitten des Artikels vorgestellt.
Zur besseren Einordnung des Konzepts sollte erwähnt werden, dass der EA an den ethischen Utilitarismus angelehnt ist. Dieser bewertet Handlungen nach ihren Folgen und ihrem Nutzen, nicht nach ihrer Intention. Eine Spende an eine unwirksame Hilfsorganisation ist demzufolge zwar gut gemeint, aber eigentlich schädlich, da dasselbe Geld anderswo einen viel größeren positiven Effekt gehabt hätte. Dieser Grundgedanke wird an folgendem Beispiel illustriert. Die Ausbildung eines Blindenhundes in den Staaten kostet etwa 50.000 Dollar. Mit demselben Geld könnte aber auch die Operation von 500 Menschen in Entwicklungsländern finanziert werden, die an einem Trachom leiden. Sie würden somit vor dem Erblinden bewahrt werden. Für den Effektiven Altruisten ist die Wahl klar. Für ihn ist jedes Menschenleben gleich viel wert – egal ob in Deutschland oder Afrika. So erläutert es zumindest Peter Singer in seinem TED Talk „The why and how of effective altruism”. Er gilt als einer der Wegbereiter des EA und gehört schon zu den alten Hasen des ansonsten noch sehr jungen Ansatzes.
Auch William MacAskill gehört zu den Multiplikator:innen des EA. Mit seinen 29 Jahren hat er es gerade mal zum Oxford-Professor gebracht. Er beginnt sein Buch „Gutes besser tun“ mit einem eindrücklichen Beispiel. PlayPump ist ein Projekt, das den Bau von speziellen Wasserpumpen in Afrika finanziert. Designt wie klassische Kinderspielplatzkarusselle soll nur mithilfe kindlicher Spielenergie Wasser zutage befördert werden. Im Jahr 2000 gewann das Hilfsprojekt den World Bank Development Marketplace Award und hatte bis 2009 etwa 1.800 PlayPumps in Südafrika, Mosambik, Swasiland und Sambia installiert.
Der einzige Haken: Eine Untersuchung von UNICEF [1] entlarvte den praktischen Nutzen der PlayPumps. Das Karussell anzuschieben erforderte viel Kraft, sodass die Kinder bald erschöpft waren. Letztlich schoben die Frauen selbst das Karussell an, was sie als ermüdend und erniedrigend empfanden. Obendrein förderten die PlayPumps fünfmal weniger Wasser als die früheren Handpumpen, waren aber viermal so teuer. Demgegenüber stellt William MacAskill die Arbeit einer niederländischen Hilfsorganisation namens Investing in Children and Their Societies, ICS. Diese untersuchte die Effekte verschiedener Maßnahmen, um die Bildung kenianischer Kinder zu fördern, mit randomisierten Kontrollgruppen. Die anfänglichen Ergebnisse waren ernüchternd: Neue Schulbücher: kein Effekt. Zusätzliche Lehrer: kein Effekt. Kostenlose Schuluniformen: kein Effekt. [2] Das Erfolgsrezept waren Wurmkuren. Sie verringerten die Abwesenheitsraten um 25 Prozent. Folgestudien zeigten auf, dass diejenigen, die als Schüler entwurmt worden waren, durchschnittlich 20 Prozent mehr verdienten als die Kontrollprobanden.[3]
GIVE WELL: EFFEKTIV SPENDEN
Jeden Tag sterben 16.000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten. Sogar jemand, der in den USA unter der Armutsgrenze von 11.000 Dollar Jahresgehalt lebt, ist immer noch reicher als 85 Prozent der Weltbevölkerung. Diese extrem ungleiche Verteilung führt dazu, dass wir mit dem gleichen Geldbetrag in armen Ländern 100-mal mehr bewirken als in unserem Heimatland. William MacAskill nennt dies den100x Multiplikator und empfiehlt, nicht an Hilfsprojekte in Industrienationen zu spenden.
Der Effektive Altruismus hat das Spenden neu entdeckt. Die meisten Menschen spenden aus persönlicher Betroffenheit. Ein Todesfall in der Familie, ein Unglück im lieb gewonnenen Urlaubsland, eine Reportage über eine schlimme Krankheit. Wir wollen beeinflussen, was uns berührt. Der EA will unterstützen, was wirklich funktioniert. Deshalb gibt es Give Well. Klassische Vergleichsportale betrachten lediglich das Verhältnis von bürokratischen Kosten und Mitteln, die tatsächlich bei den Bedürftigen ankommen. Doch das reicht nicht, sagt die Meta-Organisation, die dem Gedanken des Effektiven Altruismus Rechnung tragen will. Zur Evaluation von Hilfswerken zieht sie vier zentrale Kriterien heran:
- Nachweis der Wirksamkeit: Gibt es Untersuchungen zur Wirksamkeit? Wie verlässlich erscheinen sie? Gibt es Metaanalysen? Erfolgten diese von unabhängiger Stelle?
- Kostenwirksamkeit: Wie viel finanzielle Mittel müssen eingesetzt werden, um ein Menschenleben zu retten? Wie hoch sind die Kosten für ein Quality-adjusted Life Year, QALY? Zur Erläuterung: Ein qualitätskorrigiertes Lebensjahr stützt sich auf Umfragedaten zur Lebensqualität mit verschiedenen Krankheiten oder Behinderungen. Die Lebensqualität nach einem überstandenen Schlaganfall wird
beispielsweise auf 75 Prozent eingestuft. - Potenzial zur Nutzung zusätzlicher Finanzmittel: Macht mein Beitrag einen Unterschied? Wie schwer fällt es der Organisation, die Tätigkeiten auszuweiten?
- Transparenz/Implementierung: Gesteht die Organisation vergangene Fehler ein? Ist sie offen für Untersuchungen und Evaluationen?
AND THE WINNER IS ..
Welche Hilfsorganisation konnte all diesen Kriterien standhalten? Zumindest keine der bekannten. Wer nach Amnesty International, UNICEF oder dem Deutschen Roten Kreuz schaut, sucht vergeblich. Solche großen Organisationen haben zu viele verschiedene Projekte, die nicht einheitlich bewertet werden können und unter denen sich zwangsläufig bessere und schlechtere befinden. Give Well empfiehlt daher Hilfswerke zu unterstützen, die sich auf ein wirklich effektives Programm konzentrieren.
Deshalb befindet sich die Against Malaria Foundation auf Platz eins. Sie stellt Gelder für robuste, mit Insektiziden behandelte Bettnetze für Haushalte
in Subsahara-Afrika bereit. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist nicht schlecht. Ein Bettnetz kostet etwa 5 bis 7 Dollar, ein QALY etwa 100 Dollar, die Rettung
eines Menschenlebens 3.400 Dollar. Weiter aufgeführt wird GiveDirectly, das Barüberweisungen an Familien in Kenia und Uganda organisiert. Von jedem Spendendollar stehen den Empfängern 0,90 Dollar zur freien Verfügung – ganz ohne Bedingungen. Auch die Deworm the World Initiative aus der Einleitung begegnet uns hier wieder. Sie unterstützt die Entwurmung von Kindern in Entwicklungsländern. Insgesamt wird die Dominanz von Gesundheitsprogrammen in Entwicklungsländern augenscheinlich. Begründen lässt sich die Tatsache damit, dass sie sich direkt auf die verwendeten Maße wie QALYs und gerettete Menschenleben auswirken.
80,000 HOURS – LEBENSARBEITSZEIT NUTZEN
Durchschnittlich arbeiten wir 80.000 Stunden in unserem Leben. Die Organisation 80,000 hours geht der Frage nach, warum wir uns nicht nur über den sozialen Impact unseres Ehrenamtes, sondern vielmehr über den unserer Berufswahl Gedanken machen sollten. Neben einer kostenlosen individuellen
Berufsberatung bietet ihre Webseite auch generelle Empfehlungen. Um eines vorwegzunehmen: Den Beruf des Arztes/der Ärztin findet man nicht an erster Stelle. Es geht nicht um die direkte persönliche Wirkung, sondern darum, einen Unterschied auszumachen. Die zentrale Frage lautet: Wie viel effektiver wäre ich in der Position als der- oder diejenige, der/die sonst den Job übernommen hätte? Eine Ärztin in den USA rettet durchschnittlich 30 Leben während ihrer Berufszeit, ein Arzt in einem Entwicklungsland etwa 300 [4]. Ein minimal schlechter qualifizierter Arztwürde vielleicht 28 beziehungsweise 280 Menschenleben retten. Also hätte die erstgenannte Ärztin effektiv nur 2 oder 20 Menschenleben gerettet. Würde sie mit demselben Potenzial allerdings Investmentbanker werden und alles über 18.000 Dollar Jahresgehalt spenden (wie W. MacAskill), könnte sie mit diesem Geld vielleicht 2 zusätzliche Ärzt:innen finanzieren und hätte 60 beziehungsweise 600 Menschenleben gerettet. Ein alternativer Investmentbanker hätte dagegen nicht gespendet.
Dieser Ansatz wird tatsächlich vom EA verfolgt und nennt sich Earning to Give. Damit sich allerdings niemand mit anfänglich guten Absichten in der Mentalität der Börsenhaie verliert, gibt es die Plattform Giving what we Can. Hier kann sich jeder verpflichten, zum Beispiel zehn Prozent seines Jahresgehaltes an effektive Hilfsorganisationen zu spenden. Zum Glück ist dies nicht die einzige ethische Berufswahl laut 80,000 hours. Im Wesentlichen werden vier Karrierepfade vorgeschlagen.
- Earning to Give: Möglichst viel verdienen, um möglichst viel zu spenden. Vorgeschlagene Branchen sind Softwareentwicklung, Unternehmertum im Technologiesektor und Marketing.
- Forschung: Hier bitte Lösungen für gesellschaftlich bedeutsame Fragen finden und nicht für theoretisch interessante. Sinnvolle Bereiche liegen in der Wirtschaftswissenschaft, Statistik, Informatik und – hört, hört – „einigen Bereichen der Psychologie“.
- Politik und Interessensvertretung: Um möglichst viele Menschen zu erreichen.
- Direkthilfe: Aber nur in wirklich effektiven Organisationen.
Weiter gibt 80,000 hours bestimmte Berufsfelder an, die man trotz eines hohen Gehalts nicht ausüben sollte. In der Liste finden sich neben der Massentierhaltung, Waffenforschung, Steuerberatung für Superreiche und Homöopathie, auch die Promotion von Zigaretten und anderen Suchtprodukten sowie das Fundraising für unwirksame Hilfsorganisationen.
ETHISCHER KONSUM: WEM NÜTZT SCHON FAIRTRADE?
Ein sozial und ökologisch verantwortungsvolles Leben wird unweigerlich mit ethischem Konsum verbunden. Das Urteil des EA: Bringt wenig oder gar nichts.
Warum? Beginnen wir mit dem Kleidungskauf. Die Produkte von H&M, Primark, Deichmann und Co. werden mit Kinderarbeit, einstürzenden Fabrikgebäuden
und furchtbaren Arbeitsbedingungen assoziiert. Die Produktion findet in sogenannten Sweatshops, also Fabriken in armen Ländern, überwiegend in Asien und Südamerika, statt. Berichte über Näher:innen in Bangladesch und Spielzeugfabriken in China gaben Anlass, Produkte aus solchen Fabriken zu boykottieren und Kleidung und Spielzeug aus heimischer Produktion zu vorzuziehen. William MacAskill sagt, das ist falsch. Durch diese Reaktion verschlechtern wir sogar die Lage der Menschen. Die Arbeit in solchen
Fabriken seien die besseren Jobs. Als Alternativen bleiben sonst nur Landarbeit, Arbeitslosigkeit und das Sammeln von Abfällen.[5] Die beste Handlungsmöglichkeit für uns stellt daher die Unterstützung von Unternehmen dar, die in armen Ländern produzieren, aber bessere Arbeitsbedingungen schaffen (z.B. People Tree, Indigenous).
Ähnlich verhält es sich mit Fairtrade-Produkten. Das Fairtrade-Siegel wird an Produzierende vergeben, die bestimmte Kriterien erfüllen wie Sicherheitsvorkehrungen und Mindestlohn. Diese Produzierenden
stammen meist aus Mexiko oder Costa Rica, also Ländern, die zehnmal reicher sind als zum Beispiel Äthiopien. Mit dem Kauf eines nicht fair hergestellten Kaffees aus Äthiopien würden wir deshalb ein ärmeres Land unterstützen.
Zudem macht die Fairtrade Foundation keinerlei Angaben dazu, wie viel Geld tatsächlich bei den Erzeuger:innen ankommt. Eine Studie von Prof. Kilian und
Kollegen ergab, dass es von den 5 Dollar-Aufpreis eines Fairtrade-Kaffees gerade einmal 0,40 Dollar sind.[6] Der Rest versandet bei Mittelsmännern und -frauen.
Als letzte Kategorie bewertet William MacAskill unsere Bemühungen, CO² zu verringern. Statt Strom zu sparen, sollten wir lieber auf Fleisch verzichten, weniger reisen und – wer hätte das gedacht – spenden. Zum Beispiel an Cool Earth. Das vorgeschlagene Programm fördert die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Gemeinden im Regenwald, sodass diese ihr Land nicht an Holzfäller:innen verkaufen müssen. [7] Mit 105 Dollar pro Jahr kann der Durchschnitts-US-Bürger seinen klimabelastenden Lebensstil ausgleichen.
Zusammenfassend kommt der ethische Konsum nicht besonders gut weg. Ein zentrales Problem sieht William MacAskill darin, dass der ethische Konsument häufig annimmt, seinen Beitrag zur Welt in ausreichendem Maße geleistet zu haben. Der ethische Konsument glaubt, eine „Moralische Lizensierung“ zu genießen. [8] Diese beinhaltet, dass er unethisches gegen ethisches Verhalten aufrechnet. Eine Studie zeigte, dass Proband:innen, die sich sogar nur vorstellen sollten, einem/einer ausländischen Studierenden bei einem Vortrag zu helfen, weniger bereit waren, Geld für einen guten Zweck zu spenden als die Kontrollgruppe. Wer sich jetzt zurücklehnt, die Heizung auf 5 dreht und herzhaft in seine Knacker beißt, wird dem EA allerdings auch nicht gerecht. Es geht nicht darum, zu glauben, dass man als einzelne Person bis auf Spenden nichts ausrichten kann. Der EA bedient sich zur Verdeutlichung des Erwartungswertes. Sicherlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund eines persönlichen Fleischverzichts, weniger Tiere sterben, relativ gering. Aber irgendwo muss der/die Filialleiter:in sein Absatzkriterium, ab dem er weniger Fleischprodukte bestellt, setzen und irgendwo liegt auch die Grenze der Rentabilität eines Massentierhaltungsstalls. So wäre der Wert oder Nutzen, den der persönliche Fleischverzicht erzeugen kann, so hoch, dass es sich doch lohnt, diesen einzugehen.
KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG
Mit dem System, nicht dagegen
Es ist kein Wunder, dass Give Well nur Gesundheitsprogramme und Direkthilfen auflistet. Der EA stützt sich auf ein eher quantitatives Wissenschaftsverständnis. Zahlen kann man miteinander vergleichen, Qualitatives eher nicht. Gesamtgesellschaftliche Wirkungen, Toleranz und Offenheit, Diskriminierungen, das lässt sich alles viel schwieriger messen. Give Well unterstützt keine Organisationen, die sich für Frauenrechte, Gleichheit oder Demokratie einsetzen. Der EA will globale Ungleichheit ohne Kritik am System beheben. Jemand arbeitet an der Wall Street, kein Problem, solang er/sie genug spendet. Der Kapitalismus ist nun einmal unser System. Strukturelle Lösungen maßt sich der EA nicht an.
Was, wenn alles falsch ist?
Eine aufgebrachte amazon-Rezension zum Buch von Peter Singer beginnt mit folgenden Worten „Effektiver Altruismus ist der Gott und Singer sein Prophet“. Sicherlich erfüllt der EA nicht die Definition einer Religion. Denn diese begründet sich auf dem Glauben an transzendente, also übernatürliche Kräfte, die nicht im Sinne der Wissenschaftstheorie beweisbar sind. Trotzdem hat der EA etwas Dogmatisches. Er dreht den Spieß um. Er vergöttert die Wissenschaft. Wir dürfen nur an Hilfsorganisationen spenden, deren Wirkung wissenschaftlich belegt werden kann. Bloß was, wenn das alles nicht stimmt? Oder nur die Hälfte? Wenn der Alpha-Fehler wütet, wenn methodische Fehler Ergebnisse verzerren, wenn Versuchsleiter:innen für Signifikanz sorgen oder oder… Gerade uns Psycholog:innen sollte die Relativität des Wissens bewusst sein. Die Replikationskrise führt uns doch deutlich vor Augen, wie wenig verlässlich wissenschaftliche Ergebnisse sein können – auch die mit randomisierten Kontrollgruppen. Wie kann man dann Entscheidungen zur Rettung von Menschenleben auf einer solchen Basis vornehmen? Ist es dann nicht sicherer, direkt vor Ort ein Lächeln zu erzeugen, auch wenn das nicht mal einem QALY entspricht?
Menschenleben sind eine harte Währung
Wie viel muss ich geben, um ein guter Mensch zu sein? Habe ich ein Leben auf dem Gewissen, wenn ich nicht spende – oder noch schlimmer an PlayPumps gespendet habe? Darf ich Kinder kriegen, wenn ich in einem anderen Land mit demselben Geld mehr Kindern Leben schenken könnte? Und noch viel wichtiger: Wie kann ich mich wertschätzen, wenn ich einfach nicht viel tauge? Wenn ich nicht intelligent und diszipliniert genug bin, Informatik oder Mathe oder überhaupt zu studieren. Wenn ich arbeitslos bin und der Welt mehr koste, als ich ihr geben kann.
Der EA postuliert: Lebensrecht für alle, Lebenspflicht für keinen. Das ist schön. Ich darf leben, auch wenn ich rechnerisch nicht genug verdiene, um Menschenleben zu retten. Auch wenn man mit meinen Lebenskosten, mehr als ein Menschenleben retten könnte. Der EA befürwortet die Sterbehilfe für ältere Menschen. Ich weiß, dass laut dem EA jeder Mensch ein Recht auf Leben hat, aber das Prinzip eines Kosten-Nutzung-Kalküls impliziert eine radikale Denkweise. Der EA muss sich in der Philosophie, die er vertritt, bewusst sein, welche Gedanken er in kranken, älteren, behinderten und wenig leistungsstarken Menschen auslösen kann. Und in der Außenbetrachtung von diesen.
Liebe fragt nicht – Effektiver Altruismus schon
Das, was die meisten am Effektiven Altruismus stört, ist, dass er nicht liebt. Zumindest nicht bedingungslos. Der traditionelle Altruismus ist da anders. Für ihn liegt der Fokus auf dem/der Helfenden, dem/der Gebenden. Gibt er/sie sich auf, handelt er/sie selbstlos, handelter altruistisch. Dieses Prinzip ist für den/die Einzelne:n sehr viel leichter anzuwenden. Wenn ich mich aufopfere, geht es anderen dafür besser. Der EA bezweifelt das. Ihm ist das „Wie“ der Handlung eigentlich egal. Er bewertet anhand der Folgen und alternativen Konsequenzen. Laut ihm gibt es lost-lost-Situationen genauso wie win-win-Situationen. Eine gute Absicht entbindet uns nicht von der Kritischen Reflektion aller Folgen. Das steht diametral zu dem Konzept der (christlichen) Nächstenliebe. Mit einem halben Mantel kann keiner was anfangen? Das ist egal, es geht um die Geste, darum, Liebe und Mitgefühl und Aufopferung zu zeigen. Die Nächstenliebe betont die Intention der Handlung, der Effektive Altruist die Konsequenz.
FAZIT
Der Effektive Altruismus passt zu unserer Zeit. Er passt zu einer Zeit, in der man nach Geld, Noten und Leistungsmaßen genauso fragt wie nach dem vegetarischen Gericht auf der Karte und Gemüse aus regional-ökologischem Anbau. Der EA erlaubt gleichzeitig die persönliche Selbstverwirklichung und eine soziale Verantwortung. Doch an den Gedanken, dass der neue Gutmensch nun nicht mehr von der Sparte aufopfernde:r Sozialarbeiter:in im Öko-Pulli, sondern Businessman/-frau mit Excel-Tabelle vertreten wird, muss sich noch gewöhnt werden.
Der Effektive Altruismus öffnet neue Perspektiven für die Bewertung von Hilfsorganisationen und persönlichen Handlungsoptionen. Er zwingt uns, bisherige Muster kritisch zu reflektieren. Allerdings mag eine wissenschaftliche Betrachtung zwar die beste Option sein, die wir momentan haben, wird aber vom EA zu wenig kritisch behandelt. Die Vorteile des EA liegen im Kleinen und quantitativ Messbaren, in Systembetrachtungen stößt er auf klare Grenzen. Letztendlich muss der EA aufpassen, kein Ansatz der Gebildeten und Intelligenten zu sein, er gibt bisher keine zufriedenstellende Wertschätzung gegenüber behinderten, kranken, älteren und wenig leistungsstarken Menschen.
FürInteressierte:
MacAskill, W. (2016). Gutes besser tun: Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern könnten. Berlin: Ullstein Buchverlag
www.80000hours.org
www.givewell.org
www.givingwhatwecan.org
www.ea-stiftung.or
Quellen:
[1] UNICEF, An Evaluation of the PlayPump Water System as an Appropriate Technology for Water, Sanitation and Hygiene Programs, Oktober 2007.
[2] Michael Kremer, »Randomized Evaluations of Educational Programs in Developing Countries: Some Lessons«, in: American Economic Review, 93, Nr. 2, (Mai 2003): S. 102-6.
[3] Edward Miguel und Michael Kremer, »Worms: Identifying Impacts on Education and Health in the Presence of Treatment Externalities«, in: Econometrica 72, Nr. 1 (Januar 2004): S. 159-217.
[4] »The Role of Medical Care in Contributing to Health Improvements within Societies«, in: International Journal of Epidemiology 30, Nr. 6 (Dezember 2001): I, S. 260-3.
[5] Nicholas D. Kristof, »Where Sweatshops are a Dream«, in: New York Times, 14. Januar 2009.
[6] Bernard Kilian, Connie Jones, Lawrence Pratt und Andrés Villalobos, »Is Sustainable Agriculture a Viable Strategy to Improve Farm Income in Central America? A Case Study on Coffee«, in: Journal of Business Research 59, Nr. 3 (März 2006): S. 322-30.
[7] »Rainforest Facts«, Cool Earth, 12. Juli 2013, http.//www.coolearth.org/rainforest-facts/rainforest-fact-260-22-tonnes-of-co2.
[8] Anna C. Merritt, Daniel A. Effron und Benoît Monin, »Moral Self-licensing: When Being Good Frees Us to Be Bad«, in: Social and Personality Psychology Compass 4, Nr. 5 (Mai 2010): S. 344-57.