YVONNE FRIEDRICH.

Ich bücke mich, um meine Schnürsenkel zu binden.
Ich studiere, um einen rentablen Beruf ergreifen zu können.
Ich blättere in der Zeitung, um meine Langeweile zu vertreiben.
Ich denke, um zu verstehen.
Schreibe, um verstanden
und am Ende wieder vergessen zu werden.

Es gibt kaum eine Handlung im Leben,
um deren Sinn und Zweck wir wirklich verlegen wären.
Außer vielleicht:
dem Leben selbst.
Wie schmerzhaft,
wenn unsere heilige Ratio
das zerlegt, was die Basis unserer Existenz bilden soll.
Wenn unsere sauberen Finalketten nicht greifen.
Weil es nichts gibt,
um sie daran aufzuhängen.
Weil das schwächste Glied
das erste und das letzte sind.

Antwort 1: Gib mir eine Aufgabe und ich messe mich daran!
Kinder kriegen.
Geld verdienen.
Welt retten.
Und am Ende unseres Lebens,
da gibt es welche, die es geschafft haben
auf einer Likert-Skala von 1 bis 5.
Und solche, die am unteren Ende
der Gaußschen Verteilung landen.
Schade.

Antwort 2: Jeder ist seines Glückes Schmied
Wieso sollte irgendjemand
auf dieser Erde
das Recht haben,
mir vorzuschreiben,
wozu ich da bin?
Wegen Befangenheit disqualifiziert.
Soll doch jeder selber wissen.
Was er daraus macht.
Und ob’s ihm gefällt.
Die absolute Subjektivierung von Sinn:
Familie, Freunde, Nächstenliebe.
Blumen gießen oder Briefmarken sammeln.
Irgendwie seltsam.
Das kann mir doch keiner erzählen,
dass alles erlaubt ist
und sich niemand an der Moral probiert.

Antwort 3: Irgendwas Moralisches
Lasst uns Gutes tun.
Oder es zumindest versuchen.
Und dann als Lehrer falsche Theorien verbreiten.
Als Politiker ein schädliches System unterstützen.
Als Mutter einen Amokläufer großziehen.
Oder als Physiker die Atombombe erfinden.
Was wäre, wenn uns das aus Versehen passiert?
Lieber nicht.
Aber was wäre, wenn
die Welt so gemacht ist, dass
Gutes auf der einen Seite
Leid auf der anderen bringt.
Zwangsläufig.
Als Naturgesetz menschlicher Wahrnehmung.
Der Energieerhaltung verpflichtet.
Und dem ökologischen Gleichgewicht.
Oder was meinst du –
wenn alle Menschen 100.000 Jahre lang die Welt verbessern,
ist es dann nicht mal soweit?
Für die bessere Welt.

Antwort 3: Kein für uns erfassbarer Sinn
Vielleicht gibt es einen überirdischen Sinn,
der, weil mit menschlicher Sprache erfragt
mit menschlicher Ratio und Konstrukten nicht begreifbar ist.
Aber das Wissen, dass da was sein könnte,
lässt mich aufatmen.
Zurücklehnen.
Ein bisschen gesucht. Ein bisschen gefunden.
Pflicht erfüllt.

Antwort 4: Es gibt ihn nicht und das ist ok
Schweißnass, schwer atmend, aber glücklich
– so kennen wir ihn:
den Mythos des Sisyphos.
Von den Griechen ersonnen
und durch Camus verstanden.
Die Analogie des Felsbrockens,
der Tag für Tag
laut polternd ins Tal zurückrollt.
Weil das Leben absurd ist
und sich immer im Spannungsfeld
zwischen der unbändigen Sehnsucht nach Sinn
und dem glorreichen Scheitern der Suche derselben
den Berg hinaufzwingt.
Die Antwort sei einfach:
Erkenne dies und du wirst frei sein!

Antwort 5: Falsche Frage
Monsieur Arrogance par excellence
wird keine Sekunde seines Lebens dieser Suche widmen.
Er weiß Bescheid.
Über den Fehler.
Den grundsätzlichen. In der Frage.
Per definitionem zum Unsinn verdammt.
Glücklicherweise.
Ist sie irrelevant.
Und Ausdruck geistiger Schwäche.
Schäm dich.
Denn was erwartest du?
Wie soll etwas
entweder aus sich selbst heraus
oder in Bezug zu etwas Äußerem
erklärt werden können,
wo es doch selbst alles,
also auch das Äußerste,
umfasst?

Antwort 6: Carpe diem
Und den Moment dazu.
Atme tief ein.
Die Blumen, die Liebe,
den Gestank und das Versagen.
Das Leben als Selbstzweck.
Sei dir selbst genug.
Es lebt sich doch gar nicht schlecht.
So im Grünen. Unter Gleichgesinnten.
Mit Glückskeksen und dem literarischen Katzenkalender.
Ein hoch auf die Lebensberatung.
Ab und zu ein Stückchen Schokolade.
Ausatmen nicht vergessen.

Antwort 7: Selbstreflektion
Warum frage ich überhaupt?
Komme ja doch nicht vorwärts.
Lebe ich nicht gut und gern – auch ohne Antwort?
Aber wenn ich nicht frage,
Wonach soll ich mich richten?
Was ist mein Ziel?
Wenn jedes andere der Absurdität überführt wird.
Warum soll ich dann überhaupt weiter –
weiterlaufen, weiterlernen, weiterleben?

Antwort 42: Der Weg ist das Ziel
Sieh doch.
Jetzt hast du dir so viele, so wunderbare Gedanken gemacht.
So klug, so weise.
So reflektiert ins Leere hinein.
Die Sinnsuche als Lebensaufgabe.
Wen macht sie unglücklich,
wenn sie doch das Schönste bereithalten soll?

Antwort 1001: Verzweifelt
Je mehr ich suche und frage,
desto weniger Antworten offenbaren sich mir.
Lauter Fragmente.
Die wie Puzzleteile verschiedener Systeme
nie zusammenpassen werden.
Weil sie aus verschiedenen Welten stammen.
Manchmal erliege ich der Versuchung.
Greife zur Schere. Wild und entschieden.
Schneide all die Ecken und Kanten ab.
Dann halte ich ihre aalglatten Seiten aneinander.
Und lache. Tue so, als würde es passen.
Und wenn ich den Griff löse, fallen sie auseinander.
Dann liegen sie da.
Einzeln. Zusammenhangslos.
Schauen mich an. Oder eigentlich nicht.
Bin ihnen gleichgültig.
Jemand, der Antworten sucht.
Oder zumindest die richtigen Fragen.