Die Psychologin an der Spitze der TU Dresden
YVONNE FRIEDRICH und PAULA BÖHLMANN. Prof. Dr. Ursula Staudinger ist seit August 2020 Rektorin der Technischen Universität Dresden. Die Psychologin forschte zuvor beim Max-Planck-Institut in Berlin und an Universitäten in Dresden, Bremen und New York zu Prozessen des Alterns. In der Geschichte der TU Dresden ist sie die zweite Frau und erste Psychologin im leitenden Amt. Für uns war das Grund genug nachzufragen, wie das so ist, Rektorin einer großen Uni zu sein – und ob dabei überhaupt noch Zeit für eine Work-Life-Balance bleibt.
Frau Prof. Staudinger, fangen wir erstmal mit den Basics an. Was sind eigentlich Ihre Aufgaben als Rektorin?
Da kann man wahrscheinlich eher fragen: Was sind sie nicht? Nee [lacht], es ist zumindest ein sehr breites Portfolio. Da gibt es zum einen all die wichtigen Selbstverwaltungsgremien der Universität: Das Rektorat selbst und den Senat. Dazu kommen regelmäßige Treffen mit allen Dekanen, den Bereichssprechern, den studentischen Senator:innen, dem StuRa (Studierendenrat), den wissenschaftlichen Mitarbeitenden und den Mitarbeitenden in Technik und Verwaltung. Das sind ganz viele Meetings und wichtige Kommunikationsprozesse, in denen man sich abstimmt, gegenseitig Informationen einholt und sich berät. Außerdem veranstalten wir einmal im Monat „Let’s Talk Over Lunch“, ein digitales Mittagessen, wo sich mit vorheriger Anmeldung jeder einwählen kann. Auch die „Universitätsentwicklung“ habe ich direkt bei mir angesiedelt. Da geht es um Qualitätsmanagement, evidenzbasierte Universitätsentwicklung und langfristige Strategien. Außerdem gibt es noch die ganzen Preise, die wir als Universität selbst vergeben oder für die wir uns bewerben wollen. Auch für Grußworte bei wichtigen Veranstaltungen unserer Universität werde ich angefragt wie beispielsweise dem Richtfest für den Beyer-Bau.
Dann spielt die „TU Dresden als zivile Akteurin“ eine große Rolle. Gemeinsam mit der Prorektorin Universitätskultur sind wir bei öffentlichen Veranstaltungen aktiv und im Gespräch mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, zum Beispiel unserem Oberbürgermeister, aber auch unseren Museen und der Philharmonie. Wir halten den Kontakt in die Politik, also mit den Abgeordneten im Landtag und den Fraktionen, die sich speziell mit Wissenschaft beschäftigen. Auch die Landesrektorenkonferenz und die Hochschulrektorenkonferenz sind wichtige Vernetzungsgremien für unsere Universität. Sie merken: Der Tag ist zu kurz.
Genau darauf zielt meine nächste Frage: Wie schaffen Sie das eigentlich alles? Hat man als Rektorin noch so etwas wie eine Work-Life-Balance?
Ja, die versuche ich mir zu erhalten. Einfach weil ich in den vergangenen Jahrzehnten die Erfahrung gemacht habe, dass man sich ausbrennt, wenn man keinen Ausgleich schafft. Dann hat man irgendwann keine Lust mehr auf einen Job, der einem eigentlich sehr viel Spaß macht. Deshalb mache ich zum Beispiel in der Regel nach 18 Uhr keine Termine mehr. Am Wochenende versuche ich mir einen Tag freizuhalten, was aber nicht immer klappt. Außerdem laufe ich ins Büro und vom Büro zurück. Also zumindest ein Stück. Ich schaffe nicht die ganze Strecke, das wäre zu viel Zeit. Aber so bewege ich mich erzwungenermaßen zumindest ein bisschen jeden Tag – als Ausgleich zu dem vielen Sitzen.
Lebenseinsicht und Weisheit – Prof. Staudinger im Psycho-Path
Beim Durchforsten unserer alten Ausgaben haben wir ein echtes Fundstück erspäht: Frau Prof. Staudinger ist nicht zum ersten Mal im Psycho-Path! Im Jahr 2000 hat sie in unserer allerersten Ausgabe einen selbstgeschriebenen Artikel veröffentlicht. Damals lehrte sie an der TU Dresden und forschte zu verschiedenen Aspekten des Alterns. Unter dem Titel „Lebenseinsicht und Weisheit: Wie viele Wege führen nach Rom?“ erläuterte sie, warum es leider nicht reicht, älter zu werden, um Weisheit zu erlangen und welche Erfahrungen und Eigenschaften zusätzlich wichtig sind. Nachlesen könnt ihr den Artikel auf unserer Website unter https://psycho-path.de/wp-content/uploads/2018/11/psychopath1.pdf Wir geben eine klare Leseempfehlung!
Was sind die drei größten Ziele, die Sie sich für Ihre Amtszeit vorgenommen haben?
Eines der großen Ziele ist natürlich, dass wir weiter Exzellenzuniversität bleiben und darin hoffentlich (endlich) verstetigt werden. Ein zweites, ganz wichtiges Ziel ist, dass wir eine moderne Organisation werden. Das bedeutet, dass wir mithilfe der Digitalisierung die Verwaltungsprozesse, die durch die hohe Forschungs- und Lehrproduktivität an uns herangetragen wurden, noch effizienter und effektiver bewältigen wollen. Und das dritte, was uns im Rektorat sehr wichtig ist, ist, dass wir uns als Universität stärker bewusst werden, dass wir eine Gemeinschaft sind. Eine Gemeinschaft, die durch bestimmte Werte getragen wird, die wir jeden Tag nach innen wie nach außen leben. Deswegen habe ich das Prorektorat Universitätskultur begründet. Für mich gehört dazu, dass wir einen Campus gestalten, der es ermöglicht, sich immer wieder zu begegnen und gemeinsam Dinge zu machen. Für mich gehört auch dazu, dass wir diese Gemeinschaft deutlicher nach außen tragen und uns mit anderen Akteur:innen zu wichtigen Themen unserer Zeit verknüpfen. Sei es nun die Bewältigung der Klimakrise oder der Schutz unserer demokratischen Rechtsordnung. In dieser Rolle sehen wir uns auch in großer Verantwortung beim Strukturwandel in der Lausitz. Die Verbesserung des Transfers unserer Forschung in die Wirtschaft und der Beitrag, den unsere Universität auf diese Weise zur Produktivität unseres Landes leistet, ist ein weiteres wichtiges Thema.
Was sind die größten Hürden und Herausforderungen bei der Umsetzung der Ziele?
Es gibt einfach sehr viele Rädchen, die gleichzeitig in Bewegung gesetzt werden und dann noch ineinandergreifen müssen. Das hat viel mit der Größe der Institution zu tun. Das ist auch bei großen Wirtschaftsunternehmen so. Ich habe früher in meiner Forschung mit VW, Mercedes oder Bosch zusammengearbeitet und es dort ähnlich erlebt. Da überlegt sich die Geschäftsführung etwas und bis das dann unten in den Tiefen der Institutionen ankommt, ist der Weg weit.
Sie sind ja auch Psychologin. Welche psychologischen Sichtweisen haben Ihnen als Leiterin der TU geholfen?
Ich glaube, dass uns unsere Fachdisziplin für all das fit macht, wo Menschen zueinanderkommen, miteinander umgehen und gemeinsam versuchen, Ziele zu erreichen. Die Psychologie hilft uns, weil wir eben jenseits der inhaltlichen Fragestellungen auch wissen: Wir sind alle Menschen. Wir wissen durch unsere Wissenschaft, welche Regeln und Gesetzmäßigkeiten häufig greifen, wenn es um Emotionen, Motivlagen und Handlungssteuerung geht.
Sie arbeiteten von 1999 bis 2003 bereits als Professorin an der TU Dresden und haben die Entwicklungspsychologie geleitet. Wie hat sich die Psychologie in Dresden seitdem verändert?
Das war damals meine erste Professur. Als ich vom Max-Planck-Institut weggegangen bin, hatte ich drei verschiedene Rufe. Da war es keine schwierige Entscheidung nach Dresden zu kommen. Die Psychologie in Dresden war damals schon eines der größten Institute in Deutschland und in den Naturwissenschaften angesiedelt. Das war für mich sehr attraktiv. Als ich mit dem damaligen Kanzler verhandelt hatte, hat er gar nicht mit der Wimper gezuckt, als ich ihm meine Start-Up-Vorstellungen präsentierte, weil er aus den Naturwissenschaften ganz andere Zahlen gewohnt war. Außerdem war die Psychologie in Dresden schon zu DDR-Zeiten inhaltlich sehr gut aufgestellt. Die arbeitsbezogene Handlungstheorie, vertreten durch Professor Hacker, war vergleichbar mit dem Ruf der kognitiven Psychologie an der Humboldt-Universität mit Professor Klix.
Ich kam damals zu einer Zeit, als der Generationenwechsel im Institut für Psychologie gerade begann. Die Dresdner Psychologie hat da eigentlich einen Siegeszug angetreten. Sie war die erste Psychologie in Deutschland, die einen Sonderforschungsbereich (SFB) in Sprecherfunktionen eingeworben hatte. Das war kein dünnes Brett. Da zieh ich den Hut vor den Kollegen und Kolleginnen, die das durch tolle Zusammenarbeit hinbekommen haben. Besonders Thomas Goschke hat hier Herausragendes für die Dresdner Psychologie geleistet. Der SFB wurde dann noch zweimal verlängert. Außerdem gab es schon immer eine starke klinische Psychologie in Dresden. Jetzt sind wir stolz, dass wir unsere eigene Hochschulambulanz mit den Geschäftsführern Prof. Endrass und Prof. Kanske gegründet haben und freuen uns auf den Start des neuen Psychotherapeuten-Studiengangs nächstes Wintersemester.
Sie haben gerade die Klinische Psychologie in Dresden angesprochen. Ein Thema, das uns Studierende sehr getroffen hat, ist der Fall „Wittchen“ (s. Kasten). Können Sie uns sagen, was getan wird, damit so etwas nicht wieder passiert?
Ja, natürlich. Das hat mich ja auch sehr getroffen. Seit ich das Amt angetreten und diese Problemlage geerbt habe, habe ich dafür gesorgt, dass wir das sogenannte Compliance-Management in unserer Universität ausbauen und visibler machen. Wir müssen also sicherstellen, dass die Regeln in den Bereichen gute wissenschaftliche Praxis, zwischenmenschliche Praxis und finanzielle Verwaltungspraxis eingehalten werden. Und das haben wir getan, seit wir im Amte sind. Im neuen Rektorat haben wir die Verfügbarkeit der Informationen zu all unseren Compliance-Officers erhöht. Wir haben Beschwerdestellen für alle drei Bereiche und noch im Dezember 2020 eine neue Satzung für die gute wissenschaftliche Praxis verabschiedet. Weiterhin werden wir Anfang 2022 eine elektronische Beschwerde-Plattform live schalten, wo es möglich ist, anonym online Beschwerden jedweder Art kundtun zu können und dabei die Whistleblower zu schützen. Das war mir ein wichtiges Anliegen – aus diesem unglücklichen Fall heraus.
Die TU Dresden wurde in 62 Amtszeiten von Männern geführt und in zwei Amtszeiten von Frauen. Haben Sie das Gefühl, allein durch die Tatsache, dass Sie eine Frau sind, als Rektorin anders behandelt zu werden?
Das ist eine schwierige Frage, besonders für eine Verhaltenswissenschaftlerin, weil es keine Kontrollgruppe gibt. Ich kann nicht parallel auf mich als männliche Variante gucken und beurteilen, wie ich dann behandelt werden würde. In der Zusammensetzung unseres Rektorats habe ich darauf geachtet, dass wir eine Parität haben, also gleich viele Männer wie Frauen. Von daher spielt es in unserem Umgang miteinander eine untergeordnete Rolle. Ich erlebe aber im Umfeld der Universität immer mal wieder eine eher traditionelle Orientierung. Da müssen sich manche noch daran gewöhnen, dass sie jetzt einer Frau gegenüberstehen – und dass diese Tatsache nicht relevant ist, sondern dass im Fokus steht, dass diese Frau die TU Dresden leitet. Diesen Eindruck hatte ich manchmal, aber das kann ich wie gesagt nicht eindeutig darauf zurückführen, dass ich eine Frau und kein Mann bin.
Es gibt noch eine Sache bei Frauen in Führungspositionen, die mir wichtig ist: Es wird auch von Frauen in Leitungspositionen erwartet, dass sie mit mehr Zugewandtheit, Empathie und Geduld agieren, als dies von einem Mann in der gleichen Position erwartet würde. Das Gegenüber ist dann häufig überrascht, wenn das nicht der Fall ist, sondern Sachorientierung und klare Ansagen im Vordergrund stehen. Das wird dann nicht selten gegen die Frau in der Führungsposition gewendet. Da hat unsere Gesellschaft noch Einiges dazuzulernen: Zu vergessen, ob es ein Mann oder eine Frau ist und zu verstehen, dass die Führungsposition im Vordergrund steht und dass damit unabhängig vom Geschlecht bestimmte Zwänge einhergehen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass bei Männern klare Ansagen und gewisses Durchregieren eher verziehen bzw. sogar erwartet werden, als das bei einer Frau der Fall ist.
Was würden Sie den Frauen raten?
Das ist schwierig. Ich würde sagen, es wäre wichtig, dass wir alle unsere Geschlechtsstereotype reflektieren. Man sollte sich – auch als Frau – immer mal fragen: „Warum habe ich diese Erwartungshaltung?“, damit man aus stereotyp-orientierten Verhaltensweisen herauskommt, die uns sicher noch eine ganze Weile begleiten werden.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
Zur Person [1,2]
Seit 08/2020: Rektorin der TU Dresden
2013 – 2020: Professorin und Gründungsdirektorin, Columbia Aging Center, Columbia University (New York)
2003 – 2013: Professorin und Vizepräsidentin der Jacobs University Bremen
1999 – 2003: Professorin für Entwicklungspsychologie an der TU Dresden
1997: Habilitation (Psychologie) an der FU Berlin
1992 – 1999: Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
1988 – 1992: Wissenschaftliche Referentin an der Westberliner Akademie der Wissenschaften
1988: Promotion (Psychologie) an der FU Berlin
1978–1984: Studium der Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Clark University (USA)
1959: Geb. in Nürnberg
Der Fall „Wittchen“ [4,5]
Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen leitete 17 Jahre lang das Institut für Klinischen Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden und gilt als einer der meistzitiertesten Forscher:innen seiner Disziplin. Zuletzt machte seine Arbeit jedoch Negativschlagzeilen. Zwei seiner Mitarbeitenden erhoben Ende 2018 schwere Vorwürfe gegen ihn: Er soll Daten einer 2,5-Mio. € schweren Studie manipuliert haben. Dabei geht es um die sogenannte Studie PPP (Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik), die der Gemeinsame Bundesausschuss, das zentrale Gremium des deutschen Gesundheitswesens, in Auftrag gegeben hatte. H.-U. Wittchen hatte die Aufgabe die Personalausstattung in deutschen Psychiatrien zu erfassen. Auf dieser Grundlage sollte durch ein neues Gesetz der Personalschlüssel aktualisiert werden. Das Problem: Es nahmen nicht genügend Psychiatrien teil. Statt der von Wittchen angegebenen 93 Kliniken hatte sein Team höchstens 73 besucht. Für die restlichen Kliniken wurden einfach Duplikate der Daten von bereits besuchten Kliniken verrechnet. Diese Art der „Hochrechnung“ hatte H.-U. Wittchen nicht kenntlich gemacht. Aber das ist nicht alles: Er soll Gelder zweckentfremdet haben: Private Reisen und Essen als geschäftlich abgerechnet haben, Konferenzen erfunden und seiner Tochter ohne Arbeitsleistung eine Vollzeitstelle aus Projektgeldern finanziert haben. Weiterhin berichteten Mitarbeitende von einem Arbeitsklima mit Wutausbrüchen, Beleidigungen und Tränen. Die TU Dresden beauftragte daraufhin eine Untersuchungskommission, die nach zwei Jahren die Vorwürfe in ihrem Abschlussbericht weitestgehend bestätigt. H.-U. Wittchen habe seine Mitarbeitenden nicht nur bewusst zur Datenmanipulation angehalten, sondern sei auch bei dem Versuch, die Manipulationen nachträglich zu verschleiern, betrügerisch vorgegangen. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft. H.-U. Wittchen hat die Vorwürfe bisher abgestritten. Der Betrug ereignete sich noch zu Amtszeiten des TUD-Rektors H. Müller-Steinhagen, die Untersuchungen wurden aber erst im Jahr 2021 abgeschlossen.
Quellen:
[1] https://www.ursulastaudinger.com/de/profil/
[2] https://tu-dresden.de/tu-dresden/organisation/rektorat/rektorin
[3] https://www.stadtwikidd.de/wiki/Liste_von_Rektoren_der_TU_Dresden
[4] https://www.buzzfeed.de/politik/staatsanwaltschaft-ermittelt-faelschungsskandal-psychologie-wittchen-tu-dresden-zr-90356695.html
[5] https://www.sueddeutsche.de/wissen/wittchen-faelschung-tu-dresden-ppp-studie-psychiatrie-1.5226427