Wie geht es einer Psychologiestudentin, die selbst einen stationären Aufenthalt erlebt hat? Was ändert eine Krise an der Sicht auf unser Studium? Verbessert sie eventuell sogar die Empathie gegenüber zukünftigen Patient*innen? Die Gastautorin Paula M.* berichtet von ihrem Jahr.

Ein turbulentes Jahr geht zu Ende. Im Februar dieses Jahrs befinde ich mich in den letzten Zügen meines Masterstudiums. Ich bin eine der straighten, eine derer, die immer eine 1.0 schreiben und genau wissen, wo sie hinwollen. Gefängnispsychologie steht auf dem Plan. Eine qualitative Masterarbeit in der Sicherungsverwahrung steht. Danach dann die VT-­‐Ausbildung zur Psychotherapeutin, trotz der grausigen Bedingungen. Mein Weg ist linear und klar, wie das ebenso ist als Psychologiestudentin…

Und dann? Dann fällt mein Kartenhaus auf einmal komplett in sich zusammen. Die Symptome meiner Angststörung erreichen einen neuen Peak (surprise, genau an dem Tag der letzten Klausur meines Studiums) und ich entscheide mich für einen stationären Aufenthalt, weil einfach gar nichts mehr geht. Da sitze ich nun, selbst fast Psychologin, in einer psychosomatischen Klinik und es fällt mir so schwer, in die Patientinnenrolle zu gehen, und vor allem auch, nicht für die anderen Patient*innen die Therapeutinnenrolle einzunehmen.

Drei und viele Monate mehr vergehen, nach fünf Wochen stationärem Aufenthalt folgen sechs Wochen Tagesklinik. Und mir wird bewusst „Scheiße, ja es kann wirklich jedem passieren.“ Auch unser Wissen schützt uns nicht davor. Nein ich würde sogar sagen, dass es manchmal hinderlich ist, zu wissen, was alles in mir vorgeht und trotzdem hilflos zu sein. Dass mir ständig Dinge einfallen, die Risikofaktoren für eine Chronifizierung sind und sie dann bei mir wiederzufinden. Dass ich genau der Statistik entspreche, in der der erste stationäre Aufenthalt nach durchschnittlich sieben Jahren bestehender Symptomatik erfolgt. Aber am meisten erschrecken mich meine eigenen Vorurteile gegenüber der Psychiatrie. Und irgendwie hat es etwas bittersüßes Selbstwertsteigerndes, dann doch „nur“ in eine psychosomatische Klinik zu gehen. Es war unfassbar traurig, zu merken, dass selbst in mir nach fünf Jahren Studium diese Vorurteile sind. Die Angst vor dem, was da hinter verschlossenen (nun gut, es waren zum Glück offene :-)) Türen passiert. Wie kann es sein, dass selbst in uns Psycholog*innen, selbst in mir als (fast) Psychologin MIT einer psychischen Erkrankung eine Stigmatisierung von Menschen erfolgt, die einen stationären Aufenthalt benötigen?

Nach und nach geht es wieder zurück an die Uni. So vieles in meinem Leben hat sich geändert und ich beginne mich zu fragen, was ich wirklich will. Beginne meinen Leistungsdruck zu hinterfragen. Will ich wirklich weiterhin 14 Stunden am Tag lernen? Denn ja, diese Tage gab es in meinem Bachelor, den ich in Regelstudienzeit mit einer 1.2 abgeschlossen habe. Will ich noch Psychotherapeutin werden? Packe ich das von meiner Psychohygiene her? Nein, im Moment packe ich das nicht. Und die Erkenntnis tut so verdammt weh. Dass dieses einschneidende Erlebnis nicht nur mein Privat-­‐, sondern auch mein Berufsleben so krass verändern wird, das hätte ich nicht gedacht. Viele meiner wunderbaren Freund*innen haben mir zu Beginn gespiegelt, dass ich eine großartige Psychotherapeutin werden würde, weil ich nochmal eine ganz andere Seite unseres Gesundheitssystems kennengelernt habe, als sie es je tun werden. Und zunächst war das ein schöner, heilsamer Gedanke. Denn in meiner Zeit in der Klinik habe ich die andere Seite gesehen, so wie ich es nie gedacht hätte. Und ja, es war verdammt spannend, aber auch anstrengend und mir ist auf eine harte Art und Weise wieder die Schere zwischen all unserem empirischen Wissen und der Umsetzung in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis bewusst geworden.

Ein lieber Mensch (und eine Kommilitonin von mir) hat in einem Moment des Zweifels so treffend zu mir gesagt „Paula, wir sind auch verwundet. Wir sind verwundete Helfer, aber wir kennen unsere Verletzungen und wissen adäquat mit ihnen umzugehen und das macht uns aus.“ Und ich finde, das trifft es so passend. Trägt nicht jeder Mensch Verletzungen in sich? Diese zu kennen und vom anderen abzugrenzen, denke ich, das ist eine der Schlüsselqualifikationen, die eine gute Psychotherapeutin ausmachen.

Und deshalb hat diese Krise trotz all der Dunkelheit viele Geschenke mit sich gebracht und das ebenfalls beruflich und privat. Ich habe gelernt, welche Menschen wirklich an meiner Seite sind, wenn es hart auf hart kommt und ich habe einen wundervollen Zugang zur Psychodynamik gefunden. Die Klinik, in der ich war, hatte einen TP-­‐Schwerpunkt und ich glaube, die Therapeutin musste innerlich sehr schmunzeln als wir zusammen meine Anamnese gemacht haben und ich SORKC-­‐Modell-­‐mäßig meine Krankheitsgeschichte dargelegt  habe.  Am  Anfang  der  Therapien  kam  ich  immer  ganz  VT-­‐like  mit  einem  Zettel  in  die Therapiestunden und mir fiel es so unglaublich schwer, mich von dieser krassen (Über-­‐)strukturiertheit zu lösen, die mir im Studium so oft geholfen und im Alltag häufig im Weg gestanden hat.

Im Moment mache ich eine Psychoanalyse und, was ich niemals gedacht hätte, es hilft mir so unfassbar! In mir und in der Beziehung mit dem Therapeuten passiert so viel, so viel Neues und Hilfreiches – viel mehr als es in den zwei Verhaltenstherapien der Fall war – und das trotz Angststörung, für die es ja immer heißt

„Auf jeden Fall VT!“ (ja, ich hätte es selbst nie geglaubt).

Und nun sitze ich mit all diesem Wissen vor meiner letzten Prüfung und schreibe an meiner Masterarbeit herum. Und irgendwie hat sich mein Blick auf das Studium geändert, auf das System, in das wir reingepresst werden und in dem irgendwie gar kein Platz für die eigene psychische Gesundheit ist. Da lernen wir so viel über Risikofaktoren und die negativen Wirkungen von Disstress und kriechen dann selbst auf allen vieren aus dem Hörsaal nach der letzten Prüfung in der Klausurphase. Was also bedeutet uns wirklich die Funktionsfähigkeit eines Menschen? In unserem Studium lernen wir: Mehr als die psychische Gesundheit. Als das Thema in meiner Therapie aufkam, sagte mein Therapeut so passend „Funktionsfähigkeit? Was ein furchtbares Wort, Sie sind doch kein Staubsauger.“, und hell yeah, er hat so recht.

Warum also gibt es im klinischen Master keinen Platz für Zweifel am eigenen Berufswunsch, obwohl wir durch die neue Studie des BDP doch wissen, dass über 20% der Studierenden auch im Master noch ihren Berufswunsch ändern (Adler, Götte, Thünker & Wimmer, 2018)? Warum reden wir in Referaten über spezifische psychische Erkrankungen immer noch über „die“, anstatt über „Personen, bei denen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde“? Wir sprechen davon so, als wäre das alles ganz weit weg. Dabei wissen wir doch allein durch die Prävalenzen von Affektiven Störungen und Angsterkrankungen, dass das gar nicht sein kann. Eine Freundin und Kommilitonin hat mir letztens erzählt, dass eine Dozentin bei einem Referat zum Thema Borderline zum Plenum meinte „Na von Ihnen hat das ja sicher keiner hier.“ That‘s the stigma, I guess.

Nein,  an  meiner  Uni  gibt  es  diese  selbst-­ und  wissenschaftskritische  Sicht  nicht  bzw.  wenn  nur selbstorganisiert. Und ja, man könnte argumentieren, dass das an jeder Uni ebenso ist, aber ist es deshalb richtig?

Und deshalb wehrt sich gerade alles in mir dagegen, so weiter zu machen. Es kommt mir so paradox vor, dass  das  Auswendiglernen  von  ICD-­‐10  Kriterien  und  aller  drei  Margraf&Schneider-­‐Bücher  eine  gute Psychotherapeutin ausmachen soll, so wie es jetzt bei mir für meine mündliche Abschlussprüfung ansteht. Ja, wir brauchen dieses Wissen und ich bin ein großer Fan von manualisierten Verfahren, die all unseren Gütekriterien entsprechen. Aber nach all dem, was ich dieses Jahr gelernt habe, fühlt es sich irgendwie so

falsch an, in dieses Unisystem zurückzukehren, wo ein wirklicher Austausch so schwer möglich ist, sondern es selbst im letzten Mastersemester noch darum geht, wer am besten Auswendiglernen kann.

Ich will das nicht mehr. Und im Moment bin ich auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie ich diesen Weg trotzdem (und vor allem gesund!) zu Ende gehen kann, wo auch immer er mich dann hinführen mag.

*Ich habe lange überlegt und mich dann doch entschieden, diesen Artikel anonym zu schreiben. Es ist einfach so, dass ein Klinikaufenthalt wegen einer psychischen Erkrankung etwas Anderes ist, als ein Krankenhausaufenthalt wegen einer körperlichen Erkrankung – immer noch. Und ich kämpfe dafür, dass es anders wird. Wenn du zu meinem Artikel Gedanken hast, die du mit mir teilen willst, oder sogar selbst einen stationären Aufenthalt hinter dir hast, würde ich mich sehr freuen, wenn du mir schreibst: artikel_sinnfragen@web.de

QUELLEN
Adler, M., Götte, G., Thünker, J., & Wimmer, A. (2018). Meinungsbefragung Psychologiestudierender in Deutschland zur Novellierung des Psychotherapeutengesetzes. Abgerufen am, 12.12.2019, von https://psyfako.org/wp-­‐content/uploads/2018/10/Meinungsbefragung-­‐Psychologiestudierender-­‐in-­‐Deutschland-­‐zur-­‐Novellierung-­‐des-­‐Psychotherapeutengesetzes.pdf