Wo sind denn hier die Frauen hin?
JULIANE LUCAS. Schaut man sich während einer Psychologie-Vorlesung im Hörsaal um, ist es nicht schwer zu erkennen, welches Geschlecht überproportional unter den Studierenden vertreten ist: über 75 % der Psychologie-Bachelor- und Masteranfänger:innen sind weiblich. [1] Wenn man den Vorlesungssaal jedoch verlässt und einen Blick in die Büros des akademischen Hochschulpersonals wirft, sinkt der Anteil angestellter Wissenschaftlerinnen rapide – und noch mehr auf dem Weg zu Inhaberinnen einer Professur.
In Deutschland werden ca. 44 % der Psychologie-Professuren von Frauen geleitet. [2] Die TU Dresden befindet sich da genau in dieser Größenordnung. Sicher, ein Verhältnis von fast 50:50 klingt erstmal nicht schlecht – schaut man sich jedoch die Zahl der weiblichen Studierenden zu Studienbeginn an, stellt man sich trotzdem die Frage: Wo sind denn hier die Frauen hin? Die heutigen Geschlechterverhältnisse im Psychologiestudium waren natürlich nicht die gleichen als unsere aktuellen Professor:innen studierten. Trotzdem: vor über 40 Jahren, Ende der 1970er, waren bereits mehr weibliche als männliche Studierende in unserem Studienfach eingeschrieben. [3] Um die Jahrtausendwende herum studierten doppelt so viele Frauen wie Männer Psychologie. [3] Die Psychologie ist also schon länger eher frauendominiert – die wissenschaftliche Arbeit jedoch nicht. Bei angestellten Wissenschaftler:innen und Post-Docs sind die Geschlechter noch recht ausgeglichen, aber je weiter man die Karriereleiter hinaufklettert, desto weniger Frauen begegnen einem. Juniorprofessor, Professor, schließlich Rektor – eher selten kann man ein „-in“ dranhängen. Das Phänomen, dass in der Wissenschaft mit jedem Karriereschritt der Frauenanteil kontinuierlich abnimmt, wird als Leaky-Pipeline-Effekt bezeichnet. Dabei ist der „Verlust“ von Frauen in der Psychologie deutlich geringer als in anderen Studienfächern.
Der Leaky-Pipeline-Effekt ist in Studienfächern, bei denen insgesamt weniger Frauen ein Studium aufnehmen, durch strukturelle Hindernisse und geschlechterspezifische Stereotype leichter erklärbar als in Studienfächern, bei denen der Frauenanteil schon während des Bachelors hoch ist. Wenn z.B. durch eine bereits anfängliche und historisch geprägte Ungleichverteilung die höheren Karrierestufen eher von Männern besetzt sind, könnte bei der Personalauswahl öfter die homosoziale Kooperation greifen. Diese steht für einen Vorgang im Rekrutierungsprozess, bei dem eher Personen präferiert werden, die den Vorgänger:innen ähnlich sind – Männer wählen öfter Männer als Nachfolger aus. [4] Auch das ist natürlich ein Problem in der Psychologie, welches sich aber über Jahre langsam hätte ausschleichen müssen. Bei Studienfächern mit einem hohen Anteil weiblicher Studierender werden daher auch andere Gründe genannt, wie beispielsweise der Glass-Escalator-Effekt. Dieser beschreibt die erhöhten Beförderungschancen von Männern, wenn diese einen Minoritätenstatus haben. Somit können Männer sogar aufgrund von zugeschriebenen Geschlechtsstereotypen von ihrer Seltenheit profitieren – im Gegensatz zu Frauen. [5]
Natürlich gibt es noch viele weitere Gründe, z. B. unterschiedliche Familienplanung und Betreuungszeiten bei Männern und Frauen, andere (und/oder fehlende) Vernetzungsmöglichkeiten der Frauen oder fehlende weibliche Vorbilder. [4] Einige dieser Probleme möchte die TU Dresden mit Gleichstellungsmitteln angehen und hat dazu ein Programm für MINT-Studentinnen geschaffen, welches seit dem Sommersemester 2023 angelaufen ist. Da die Psychologie an der TU Dresden zu den Naturwissenschaften gezählt wird, können auch Psychologiestudentinnen an dem Programm teilnehmen.
Das Mentoring-Programm für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Studentinnen hat zum Ziel, die Teilnehmerinnen bei der Vorbereitung und Umsetzung der eigenen wissenschaftlichen Laufbahn zu fördern. Dazu bietet es den Raum, dass sich die Studentinnen vernetzen und sich über ihre Erfahrungen, Pläne und Sorgen austauschen können. In angeleiteten Peer-Mentorings werden Themen wie Networking und mögliche Hürden für Frauen im Wissenschaftsbereich diskutiert, in überfachlichen Workshops Kompetenzen zu Themen wie Zielsetzung, Zeit- und Selbstmanagement und Mut zur Sichtbarkeit gestärkt. Im Verlauf des Programms finden außerdem Mentoring-Treffen mit Nachwuchswissenschaftlerinnen der Universität statt, sodass ein Erfahrungsaustausch weiterführender ermöglicht wird, bei dem die Studentinnen hilfreiche Tipps für ihren eigenen Karriereweg erhalten können. Jeder Durchlauf des Programms hat eine Dauer von einem Jahr, wobei die Veranstaltungen gegen Ende immer freier und von den Studentinnen selbst organisiert werden.
Im jetzigen ersten Durchlauf nehmen insgesamt 30 MINT-Studentinnen am Programm teil, was laut der Programm-Koordinatorin Grit Schuster darauf hindeutet, „dass es einen Bedarf an dieser Stelle gibt, der durch die Programminhalte bedient wird. Das Programm dient der Orientierung und dem Sichtbarmachen von Strukturen und Regeln insbesondere für Frauen im Wissenschaftsbetrieb“. Hinsichtlich des Studienstandes sind die Teilnehmerinnen sehr heterogen, sodass das Erfahrungswissen bezüglich einer Karriere in der Wissenschaft sehr unterschiedlich sei. „Generell ist bei allen Teilnehmerinnen eine sehr hohe Affinität und ein starkes Interesse an einer Wissenschaftskarriere erkennbar.“, so Grit Schuster.
Wenn man männlichen Kommilitonen von dem Programm erzählt, blickt man oft in leicht enttäuschte Gesichter und es wird vorsichtig nach ähnlichen Programmen, die auch Männern zugänglich sind, gefragt. Unterstützung für eine wissenschaftliche Laufbahn und bei der Entscheidung, ob und wenn ja, wie man eine Promotion angehen sollte, wird sich von allen Interessierten gewünscht. Grit Schuster verweist darauf, dass Mentoring-Programme und Förderinitiativen an Universitäten in der Regel darauf abzielen, die Chancengleichheit und die berufliche Entwicklung aller Studierenden und Nachwuchswissenschaftler:innen zu fördern, unabhängig von ihrem Geschlecht. „Einige der Programme richten sich jedoch oft an unterrepräsentierte und als besonders förderwürdig erachtete Gruppen. In unserem Fall ist es eine Reaktion darauf, dass Frauen in Führungspositionen in der Wissenschaft viel weniger vertreten sind als Männer.“
Ich für meinen Teil bin sehr dankbar, dass ich durch das Programm die Möglichkeit habe, mich mit anderen Studentinnen – auch außerhalb der Psychologie – über eine akademische Laufbahn auszutauschen. Bei den Peer-Mentoring-Treffen werden gemeinsam Ideen gesammelt, wie man sich ein Netzwerk aufbauen kann, man tauscht sich über erhöhten Leistungsdruck aus, merkt auch einfach, dass man nicht allein mit seinen Sorgen ist und baut sich ganz nebenbei ein Frauennetzwerk auf. Die Workshops helfen zur Orientierung, schaffen etwas mehr Klarheit darüber, was man eigentlich will und der Austausch mit anderen Studentinnen ist auch an dieser Stelle unglaublich hilfreich. Nach etwas aufgekommenen Frust über Teilzeitstellen, Publikationsdruck, schwieriger Familienplanung etc. war es richtig heilsam, sich mal wieder zu erinnern, warum man trotzdem in der Wissenschaft arbeiten möchte. Dass sich all der Stress auszahlen wird, wenn man das machen kann, wofür man brennt.
Für Nachwuchswissenschaftlerinnen ist das Programm ebenso attraktiv: als Mentorinnen können sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen im Wissenschaftsbereich vermitteln und sich aktiv als Vorbild an der Nachwuchsförderung beteiligen.
Die TU Dresden ist nicht die einzige Uni, die das Leaky-Pipeline-Problem angeht. An vielen deutschen Universitäten gibt es Mentoring-Programme, die auch speziell Frauen in der Wissenschaft fördern sollen. Schaut bei Interesse doch einfach mal, ob eure Uni ebenso entsprechende Programme anbietet: https://forum-mentoring.de/programme/geografische-suche-deutschland/
Quellen
[1] Statistisches Bundesamt (Destatis). (n.d.). Studierende an Hochschulen – Fachserie 11 Reihe 4.1 – Sommersemester 2022. Bildung Und Kultur. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/Publikationen/Downloads-Hochschulen/studierende-hochschulen-ss-2110410227314.html
[2] Statistisches Bundesamt (Destatis). (n.d.). Personal an Hochschulen – Fachserie 11 Reihe 4.4 – 2021. Bildung Und Kultur. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/Publikationen/Downloads-Hochschulen/personal-hochschulen-2110440217004.html
[3] Wieser, M., & Malich, L. (2021). Editorial – Rückblick im Umbruch. Psychologische Rundschau, 72(3), 177–180. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000543
[4] Stemmer, L. (2020). Frauen in MINT: Ein systemischer Erklärungsansatz der Leaky Pipeline (Doctoral dissertation, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)).
[5] Osterloh, M., Rost, K., Hizli, L., & Mösching, A. (2022). Bericht zum Forschungsauftrag „Leaky Pipeline“. 1–64.
[6] Frauen- und Männeranteile im akademischen Qualifikationsverlauf, 2020. (o. D.). https://www.gesis.org/cews/daten-und-informationen/statistiken/thematische-suche/detailanzeige/article/frauen-und-maenneranteile-im-akademischen-qualifikationsverlauf