Selbstexperiment zum Therapeutischen Schreiben

PAULA BÖHLMANN & NOËL CLAUSEN. Schon wieder sitze ich vor dem weißen Blatt Papier, das ich sorgsam mitsamt Stift zurechtgelegt habe. Obwohl ich mich oft in ein romantisches Candlelight-Tagebuch-Date mit mir wegtagträume, ist mein Kopf jetzt, wo ich mich tatsächlich mit einem Block und einem Stift am späten Nachmittag auf den Balkon gesetzt habe, furchtbar still. Als Kind habe ich doch so gerne geschrieben und oft Stunden damit verbracht, mir am Küchentisch Geschichten auszudenken oder meinen Tag akribisch detailliert niederzuschreiben. Von meiner Mama hörte ich immer wieder „Schreiben hilft“ und schon oft habe ich selbst diesen Rat an aufgebrachte Menschen weitergegeben, der doch so einfach, unmittelbar und praktisch überall umsetzbar ist. Aber wenn ich jetzt vor dem provokanten weißen Blatt sitze und darüber nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht, was am Schreiben überhaupt so hilfreich sein soll. 

Im wissenschaftlichen Kontext wird das therapeutische Lesen und Schreiben eher unter dem Oberbegriff „Poesietherapie“ geführt [1, 2].  Silke Heimes definiert Poesietherapie als „jedes therapeutische und (selbst-) analytische Verfahren […], das durch Schreiben und Lesen den subjektiven Zustand eines Individuums zu bessern versucht und (auto-)biographisches, expressives, intuitives, kreatives, therapeutisches, imaginatives, analoges, assoziatives und automatisches Schreiben umfasst wie die aktive Textrezeption und -verarbeitung“ [3]. In dem Kasten findet ihr bereits schon einmal kurze Erläuterungen, was sich hinter diesen Fachbegriffen verbirgt. Bevor wir jedoch auf einzelne Techniken schauen, die der Methodenkoffer „Therapeutisches Schreiben“ zu bieten hat, klären wir zunächst ein paar Fragen dazu, wie und warum das Schreiben überhaupt therapeutisch sein kann. 

(Auto-)biografisches Schreiben: Schreiben über Erfahrungen und Erinnerungen
Expressives Schreiben: Auseinandersetzung mit belastenden Ereignissen
Intuitives, automatisches Schreiben: unzensiert, Verzicht auf Absichtlichkeit
Assoziatives Schreiben: Gedanken freien Lauf lassen
Analoges Schreiben: handschriftlich

Wirkmechanismen der Schreibtherapie

     Es konnten vielerlei positive Begleiterscheinungen des Schreibens auf Parameter der körperlichen und psychischen Gesundheit gefunden werden. Beispielsweise gibt es Studien, in denen gezeigt wurde, dass Techniken des therapeutischen Schreibens mit einer reduzierten negativen Stimmung sowie einer verbesserten Emotionsregulation und Kommunikation einhergehen. Auch auf die Selbstwirksamkeit und das Selbstkonzept wirkte sich Schreiben positiv aus [3].

     Zu den Mechanismen dieser positiven Effekte wird zwar geforscht, allerdings existiert dazu noch keine in sich schlüssige Theorie [3]. Eine frühe zentrale Annahme aus dem Inhibitionsmodell, welches von dem ehemaligen amerikanischen Professor für Soziologie und Psychologie J. W. Pennbaker formuliert wurde, ist, dass zurückgehaltene Gedanken und Gefühle als Stressoren wirken und so zu der Entstehung von Leid und Krankheit beitragen können [4]. Freud sah in der freien Assoziation ein Mittel zur Entlastung [5], wohingegen Pennebaker einen Schritt weiter ging und die Selbstoffenbarung als heilsamen Prozess spezifizierte [4]. In Untersuchungen konnte er beispielsweise zeigen, dass Selbstoffenbarung zu einer Reduktion der Muskelspannung und des Blutdrucks führte [6]. Darüber hinaus fand Pennebaker eine verstärkte positive Wirkung bei der Verwendung von einsichtigen Worten und Kausalbegriffen, mittels derer aus anfänglich chaotischen Eindrücken und Assoziationen zunehmend eine kohärente, sinnhafte Erzählung wird [7].  Kausalbegriffe umfassen zum Beispiel Artikel („Begleiter“ wie eine, der oder dieses), Präpositionen (z.B. an, auf, bei, für, wegen, zu) Hilfsverben (haben, sein und werden) und Pronomen (z.B. er, mein, welcher), die in einer Untersuchung positive gesundheitliche Veränderungen vorhersagten. Somit verfolgt die Schreibtherapie bezüglich des Umgangs mit belastenden Lebensereignissen ein ähnliches Ziel wie viele bekannte Traumatherapien: Aus den zunächst fragmentierten Erinnerungen und dem Erleben soll ein kohärentes Narrativ werden, in dem belastende oder gar traumatische Erlebnisse und andere wichtige Lebensaspekte einen festen Platz haben [8]. Dazu entwickelte Pennebaker eine eigene Technik, das „Expressive Schreiben“ (was das ist, verraten wir euch gleich). 

Insgesamt besteht heute größtenteils Einigung darüber, dass das Ausdrücken von Gefühlen ein primäres menschliches Bedürfnis und gesundheitsförderlich ist, aber Entlastung im Sinne der Selbstöffnung nicht ausreicht, um mit klinisch relevanten Traumata umzugehen [3] [9]. In Übereinstimmung damit kommen auch Metaanalysen zur Wirksamkeit des Expressiven Schreibens zu heterogenen Ergebnissen [3].

Aufgrund der Heterogenität in den Ergebnissen drängt sich die Frage auf, wem das Schreiben besonders hilft. In Studien zeigte sich, dass vor allem unsichere, zurückhaltende und feindselige Menschen von Schreibtherapie profitieren. Ein möglicher Grund ist, dass diese Menschen im Alltag weniger Möglichkeiten zur Selbstoffenbarung haben. Auch Ambivalenz, ausgeprägteres dichotomes Denken, höhere Neurotizismuswerte und Schwierigkeiten in der Gefühlswahrnehmung charakterisieren Personen, die stärker vom Schreiben profitieren [3].

Inhalt des Methodenkoffers

Was zählt nun alles zum Therapeutischem Schreiben? Beginnen wir mit zwei Techniken, die ihr sicher schon mal im Alltag angewandt habt, um etwas Ordnung in eure Gedankenwelt zu bringen:

Mindmapping: Was eine Mindmap ist, müssen wir euch sicher nicht erklären: Ein Wort wird in die Mitte des Blattes geschrieben und auf sich verzweigenden Ästen werden Assoziationen eingetragen. Hier kann man Gedanken strukturieren und Verbindungen zwischen einzelnen Informationen erkennen [10].

Listmaking: Listen schreiben eignet sich super zum Brainstormen. Längere Listen können auch nach thematischen Clustern ausgewertet werden: Welche Bereiche sind stärker, welche weniger stark repräsentiert [11]?

Als nächstes kommen ein paar Techniken, die ihr vielleicht noch nicht im Alltag angewandt habt und die sich für eine tiefere Auseinandersetzung mit Themen eignen:

Freewriting: Hier werden alle Gedanken und Gefühle, so wie sie kommen, aufs Blatt gebracht. Das Geschriebene wird während des Schreibens weder korrigiert noch bewertet. Der Text und seine thematische Ausrichtung entwickeln sich also quasi erst während des Schreibens. Wenn man den Text im Anschluss noch einmal liest, kann die ein oder andere Erkenntnis winken [11][12].

Expressives Schreiben: Im Grunde verbirgt sich unter dem hochtrabend klingenden Begriff lediglich die Aufforderung, an drei bis vier aufeinanderfolgenden Tagen für 15-20 Minuten über ein belastendes Ereignis zu schreiben und dabei nicht nur sachliche Fakten, sondern vor allem Gefühle zu thematisieren [13].

Serielles Schreiben: Hierbei wählt man einen Satzanfang. Diesen nutzt man mehrmals und vervollständigt ihn immer mit einem anderen Satzende. Zum Beispiel: “Heute …”, “Als ich ein Kind war …”, “Ich bin dankbar für …”, “Ich wünsche mir, dass …” etc. Das kann ein Sprungbrett sein, um mit dem Schreiben zu beginnen. Der Gedanke dahinter ist, dass hier Muster erkannt werden können und man sich so schließlich auf ein Thema fokussiert [12]. 

Imaginatives Schreiben: Hier stehen die Sinne im Mittelpunkt. Innere, entlastende Bilder werden mit allen Sinneseindrücken beschrieben, was Gefühle intensivieren soll. Diese Technik kann auch für das Entwickeln eines inneren sicheren Ortes eingesetzt werden [12].

Literarisieren: Bei dieser Technik wird die Erinnerung aus der dritten Person erzählt, um eine Distanz zu einem belastenden Erlebnis herzustellen [12].

Gedichte: Hier formuliert man aus Gedanken ein Gedicht, bspw. ein Elfchen oder einen Haiku. Nutzen kann man das zum Beispiel zum Zusammenfassen der Kernaspekte aus dem Freewriting [10][11][12]. 

Briefe: Einen Brief kann man zum Beispiel einer Person schreiben, die einen gekränkt hat, oder wenn es in einer Beziehung Ungesagtes gibt, was auf der Seele brennt. Ob man den Brief abgeschickt, sich damit auf eine spätere Aussprache vorbereitet oder sich den Kummer und Ärger von der Seele schreibt, bleibt jedem:r selbst überlassen [11]. Man muss den Brief jedoch nicht immer an andere richten. Auch die eigenen Persönlichkeitsanteile, das Vergangenheits-Ich oder das Zukunfts-Ich können ebenso Briefe erhalten. Ein Brief an das Zukunfts-Ich kann helfen, sich den eigenen Zielen klarzuwerden und sich selbst zu motivieren [14]. Aber auch ein selbst-mitgefühlsvoller Perspektivwechsel ist möglich, indem man sich selbst so einen Brief schreibt, als sei man sein:e beste:r Freund:in [11].

Dialoge: Manchmal wäre es doch recht hilfreich, wenn jemand antwortet. Oder die eigene Position ist so unklar, dass es sich so anfühlt, als würden sich zwei Seiten in einem streiten. Bei inneren Konflikten und innerer Zerrissenheit eignet sich die Dialog-Technik, bei der bspw. Kopf und Bauch ins Gespräch kommen und am Ende vielleicht sogar einen Kompromiss finden [11].

Das Selbstexperiment

Trotz des Nischendaseins der Poesietherapie klingt diese kurze Einführung für uns erst einmal schlüssig. Als psychologie- und schreibbegeisterte Menschen juckt es uns in den Fingern, selbst einmal die eine oder andere Technik des therapeutischen Schreibens auszuprobieren. Also durchblätterten wir Bücher, die wir dazu in die Hände kriegen können, nach spannenden Techniken, welche wir ein paar Tage lang ausprobieren möchten.

Noel

Aus Sorge vor dem bedrohlichen schneeweißen Blatt, startete ich mit den zwei Schlüsselstrategien des therapeutischen Schreibens, die ich in einem Buch von Birgit Schreiber gefunden hatte [11].  Das Freewriting und das daran anschließende Ernten erschienen mir wie eine strukturiertere Version des Expressiven Schreibens, bei der ich zu Beginn meines Experiments erstmal an die Hand genommen wurde. Es motivierte mich, mir einen Timer zu stellen und erstmal nur fünf Minuten schlichtweg das zu Papier zu bringen, was gerade in meinem Kopf aufpoppte. Schreiber empfiehlt, den Stift möglichst nicht ruhen zu lassen und Lücken mit Sätzen wie “Ich weiß nicht weiter” und “Diese Übung ist doof” zu überbrücken, bis sich ein neuer Gedanke geformt hat [11]. Nach dem Freien Schreiben folgte das Ernten. Dazu sollte ich zunächst meinen Text lesen und danach fünf Begriffe oder Satzteile unterstreichen, die mich angesprochen habe oder die ich besonders wichtig befand. Aus diesen Begriffen sollte ich dann einen bis drei Sätze im Sinne eines Fazits oder einer Take-Home-Message formulieren. Aufgrund der Schlichtheit der zweiten Strategie muss ich gestehen, dass ich skeptisch war. Gleichzeitig hat mich genau dies aber auch angesprochen. Übrigens hat dieses Vorgehen lange Tradition und findet unter anderem in der Psychoanalyse in Form des Zweischritts bestehend aus freier Assoziation und rationaler Deutung Anwendung [11]. 

Noels Fazit

Nach fünf Tagen bin ich verblüfft über die Wirkung dieser zwei einfachen Techniken. Zunächst einmal stelle ich rückblickend fest, dass ich für meine Ausgangssituation genau die richtige Herangehensweise gewählt habe. Ich hatte kein konkretes Ziel. Ich wollte nur ins Schreiben kommen und im Schreiben eine Wirkung erfahren, wobei ich völlig offen war, welche Wirkung das sein möge. Die Zeitbegrenzung des Freien Schreibens motivierte mich anzufangen und beim Schreiben ohne Anspruch an die Originalität oder Schönheit des Endergebnisses entwickelten sich Beobachtungen und Erkenntnisse, die mir bei meinem bisherigen (?) zu verkopftem Vorgehen vor diesem Selbstexperiment, verwehrt blieben. Auch wenn die Zeitbegrenzung für meine Motivation absolut hilfreich war, waren mir fünf Minuten fürs Freie Schreiben viel zu kurz und ich steigerte die Minutenzahl bereits am zweiten Tag. Im Schreiben eröffneten sich mir scheinbar mühelos Ideen, Erkenntnisse, Handlungsimpulse, Erinnerungen und Gefühle – sowohl positive, aber auch negative. Beim Ernten hinterher erkannte ich auf einer anderen Ebene Muster, zog Schlussfolgerungen und entschied ganz bewusst, wie ich auf das, was sich mir beim Ernten offenbarte, reagierte. Bereits nach dieser sehr kurzen Zeit habe ich das Gefühl, dass mir das Schreiben eine große Stütze sein kann, mein Leben selbstbestimmter zu gestalten. Das Schreiben half mir nicht nur, Bedürfnisse und Belastungen zu erkennen, sondern auch meine Handlungen im Einklang mit diesen zu wählen. Insgesamt fühle ich mich, als hätte ich in der Zeit des Selbstexperiments viel stärker agiert als bloß darauf zu reagieren, was das Leben mir vorwirft. Mir half das therapeutische Schreiben ganz konkret dabei, mein Bedürfnis nach Erholung und Besinnlichkeit zu erkennen, sodass ich mich daher dazu entschied, die Uni zumindest für die Weihnachtszeit erst einmal hintenanzustellen und den Dezember bewusster zu genießen. Bereits nach fünf Tagen freue ich mich über Gelegenheiten zum Schreiben, auch wenn es nur ein paar Minuten sind.

Paula

Ich beginne mit vielen Fragezeichen im Kopf: Was schreibe ich? Wie oft? Wie lange? Zum Glück haben die Lehrbücher ein paar Empfehlungen für mich: Mehrere und längere Schreibsitzungen scheinen effektiver zu sein. Dabei sei es jedoch weniger relevant für die Wirksamkeit, ob ich mehrmals täglich, täglich oder wöchentlich schreibe. [3] Ich nehme mir also vor, mir an fünf aufeinanderfolgenden Tagen je 20 Minuten Zeit für das therapeutische Schreiben zu nehmen.

Die Frage nach dem Inhalt meiner Worte fällt mir deutlich schwerer zu beantworten. Während Noel mir schon begeistert von ihren täglichen Erfahrungen mit dem Schreiben berichtet, schwanke ich noch zwischen der Vielzahl von Techniken. Am liebsten würde ich alle ausprobieren.

Aus diesem Grund kommt mir eine Methode, die ich in Birgit Schreibers Buch [11] finde, gelegen. Sie trägt den Namen “Die Wünsche-in-Worte”-Methode und nutzt mehrere Techniken. Der Sinn ist, die Kraft der Worte auf dem Weg zur Veränderung zu nutzen, sich greifbare Ziele zu stecken und sich für die Umsetzung zu motivieren. In Anbetracht der Tatsache, dass heute der 12.12. ist, eignet sich das doch perfekt, um das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen und an den Vorsätzen für das neue Jahr zu arbeiten.

Tag 1: Bilanz ziehen

Heute lasse ich das vergangene Jahr Revue passieren. Als Hilfestellung bekomme ich aus dem Buch folgende Fragen:  Welche Wünsche habe ich mir erfüllt? Wer oder was hat mir Kraft gegeben? Was hat mich glücklich gemacht? Was sind offene Baustellen? Was möchte ich behalten, was ablegen und welche Aspekte neu in mein Leben aufnehmen? Von diesen Fragen inspiriert, schreibe ich im Freewriting-Stil alle Gedanken auf, die mir innerhalb von 20 Minuten durch den Kopf schießen. Hier stelle ich fest, dass ich schneller denke als schreibe, was sich in einer sehr unleserlichen Schrift und einer schmerzenden Hand bemerkbar macht. Ich schreibe bis zur letzten Sekunde, aber bin am Ende dennoch überrascht, dass das Wichtigste seinen Weg aufs Blatt gefunden hat. Also kann ich zum zweiten Schritt übergehen. Ich lese meinen Text noch einmal durch und markiere mit Textmarkern, welcher Gedanke zu welcher Frage gehört, um etwas Struktur in den Gedankensalat zu bekommen. 

Mein Fazit zur Übung: Das Ergebnis begeistert mich. Es fühlt sich gut an, sich die schönen Dinge vor Augen zu führen, und befreiend, sich die Herausforderungen von der Seele zu schreiben. Außerdem ist es sehr aufschlussreich zu lesen, welche Dinge im letzten Jahr zu kurz gekommen sind. Ich nehme mir vor, solch eine Bilanz nun am Ende jeden Monats zu ziehen.

Tag 2: Visionen entwickeln

Heute erwartet mich eine Technik, die mich bereits mein ganzes Studium begleitet: Listmaking. Damit keine Aufgabe aus Studium, Ehrenamt und Haushalt durchrutscht, sind To-Do-Listen schon immer meine treuen Begleiter. Auf der heutigen Liste landen jedoch nicht nur “Wäsche waschen”, “Psycho-Path-Artikel schreiben” und “Weihnachtsgeschenke kaufen”. Die Liste, die ich im Rahmen des therapeutischen Schreibens anlege, beinhaltet meine Ziele für 2023. Ich habe fünf Minuten Zeit, um zwölf Ziele zu formulieren. Danach soll ich die drei wichtigsten Ziele auswählen und für je fünf Minuten im Freewriting aufschreiben, wie es mir gehen wird, wenn ich das Ziel erreicht habe und welche Zweifel mir kommen. Abschließend ist meine Aufgabe, die Ziele auf meiner Liste nach Priorität zu ordnen.

Mein Fazit zur Übung: Ich bin überrascht, dass, ohne dass ich den Text von gestern nochmal gelesen habe oder ihn beim Aufstellen der Ziele groß auf dem Schirm hatte, fast die gleichen Veränderungsimpulse aufgetaucht sind. Aus diesem grandiosen Befund im Sinne der Retest-Reliabilität schließe ich, dass mir diese Dinge wirklich wichtig zu sein scheinen. Dennoch bin ich heute weniger begeistert als gestern. Das Anlegen einer Liste hat mir wieder das Gefühl einer To-Do-Liste gegeben: Abarbeiten statt Selbstverwirklichen. Wenig verwunderlich, dass ich bei der Wahl der wichtigsten Ziele Arbeits- über Freizeitziele priorisiert habe. Ich bin jedoch trotzdem gespannt, wie sich meine Ziele in den Übungen der nächsten Tage entwickeln und hoffe, mit der heutigen Übung einen Grundstein gelegt zu haben.

Tag 3: Fahrt in Richtung Ziel aufnehmen

Heute soll ich eigentlich eine Collage, die die Erreichung meiner Ziele vom Vortag illustriert, basteln. Aufgrund von Zeitmangel entscheide ich mich jedoch für etwas, das dem Imaginativen Schreiben ähnelt. In 20 Minuten beschreibe ich mir in schillerndsten Farben einen Tag, wie er in einem Jahr aussehen könnte, wenn ich all meine Ziele erreicht habe. Abschließend überlege ich mir, wie auch nach der Collage-Übung empfohlen, ein Motto für das nächste Jahr.

Mein Fazit zur Übung: Ich merke von Satz zu Satz, welche warmen Gefühlen in mir entstehen und wie motiviert ich bin, an der Erreichung meiner Ziele zu arbeiten. Als ich mein Jahresmotto aufstelle, habe ich sogar etwas Gänsehaut. Als Motivationskick kann ich diese Übung wirklich empfehlen. 

Tag 4: Pläne schmieden

Es wird konkret. Aus den vage formulierten Zielen und den glänzenden Vorstellungen, wie mein Leben im Dezember 2023 aussehen wird, sollen heute konkrete Pläne entstehen. Dafür wähle ich mir eines der Ziele aus, das besonders breit und uneindeutig auf meiner Liste von Tag 2 steht. Birgit Schreiber empfiehlt 15 Minuten mit der Mindmapping-Methode Ideen zu sammeln, die zur Erreichung des Ziels beitragen würden. Dann soll ich die vielversprechendste Herangehensweise auswählen und daraus ein positives Ziel, das den SMART-Prinzipien folgt, formulieren. Anschließend schreibe ich für zehn Minuten mittels Listmaking zehn konkrete Verhaltensweisen auf, die mich in Mini-Schritten dem Ziel näherbringen.

Mein Fazit zur Übung: Bevor ich diese Technik angewandt habe, stand auf meiner Liste ein wundervolles Ziel, nach dessen Erreichung ich wirklich zufrieden wäre. Wie ich zu diesem tollen Zustand komme, war mir zuvor nicht klar. Nach der Übung weiß ich, was ich tun kann, um da auch wirklich hinzukommen. Ich schätze, dass das die Wahrscheinlichkeit, dass ich mein Ziel auch angehe, enorm erhöht. Ich stelle sogar nebenbei fest, welche Aspekte meines täglichen Verhaltens und welche Annahmen das Ziel boykottieren. Somit vereint die Übung für mich Klärungs- und Bewältigungsaspekt. Sich die Zeit zu nehmen, vage Ziele konkret mittels SMART-Prinzipien zu formulieren und dann noch Handlungspläne aufzustellen, kann ich empfehlen. In den nächsten Tagen werde ich das vermutlich noch für weitere Ziele der Liste, die mir noch zu ungenau erscheinen, wiederholen.

Tag 5: Traumziel ansteuern

Heute ist die Aufgabe, einen Brief an das Zukunfts-Ich zu schreiben. In drei Monaten soll ich einen Reminder mit dem Ziel vom Vortag und den Handlungsimpulsen erhalten. Auch heute lege ich die Aufgabe etwas freier aus. Ich schreibe nämlich noch einen zweiten Brief an mein Zukunfts-Ich in 12 Monaten. Hier packe ich alle Erkenntnisse und Wünsche für die Zukunft rein, die ich in den letzten 5 Tagen zusammengetragen habe. 

Diesmal nehme ich mir für die Übung kein Blatt und Stift, sondern schreibe am Computer, denn ich nutze eine Internetseite, die mir zum ausgewählten Datum eine E-Mail mit meinen Briefen an mich selbst zustellt.

Mein Fazit zur Übung: Mir fallen zwei Dinge auf: 1) Schreiben am Computer bringt mich in ein Performance-Mindset. Ich formuliere Sätze um, lese Korrektur und schiebe sogar Abschnitte hin und her, damit ein roter Faden entsteht. Ein No-go, wenn es um Freewriting ginge, aber bei den Briefen erlaube ich mir das mal. Schließlich möchte ich meinem Zukunfts-Ich ja auch etwas Schönes zum Lesen geben. Dennoch werde ich zukünftige Schreibübungen wieder handschriftlich machen. 2) Auch wenn ich weiß, dass ich es selbst bin, an die ich diesen Brief schreibe, finde ich so liebevolle Worte, wie ich sie sonst nur Freund:innen entgegenbringe. In meinen Augen ist das eine wundervolle Übung, um Selbstmitgefühl und Selbstakzeptanz zu praktizieren. Ich bin gespannt, wie es sich anfühlt, die Briefe zu lesen.

Mein allgemeines Fazit

Wenn man mich dieses Jahr fragt, welche Neujahrsvorsätze ich habe, werde ich nicht wie sonst mit den Schultern zucken und das obligatorische: “Weniger Bildschirm, mehr Natur” sagen. Dieses Jahr habe ich echte Ziele und sogar schon Ideen, wie ich sie erreiche. Ob ich das jetzt jedes Jahr mache? Ich nehme es mir auf jeden Fall vor, denn ich glaube, dass dies eine Methode ist, die zu Veränderungen im Leben motiviert und sie verhaltensnah und umsetzbar macht. Gefallen hat mir auch die Vielfalt an Techniken. Langweilig geworden ist mir auf jeden Fall nicht.

Nachdem ich die Methode so über den grünen Klee gelobt habe, muss ich mir jedoch eingestehen, dass ich gar nicht weiß, ob ich Ziele davon umsetzen werde. Das werde ich erst in den nächsten Monaten sehen. Was ich aber jetzt schon weiß, ist, dass sich das Schreiben entlastend und bestärkend angefühlt hat. Und das ist ja auch schon ein toller Effekt.

Probiert es gern selbst aus. Auch im März ist es noch nicht zu spät für Neujahrsvorsätze. 🙂

Quellen
[1] Lerner, A. (1980) Poetry in the therapeutic experience. New York: MMB Music Inc.
[2] Leedy, J. J. (1969) Poetry therapy. Philadelphia: Lippincott.
[3] Heimes, S. (2012). Warum Schreiben hilft: Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
[4] Pennebaker, J.W. & Susman, J. R. (1988). Disclosure of traumas and psychosomatic processes. Soc Sci Med 26:327-332.
[5] Freud, S. (1975). Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe-Ergänzungsband. Fischer: Frankfurt am Main. 
[6] Pennebaker, J. W., Hughes, C. F., O’Heeron, R.C. (1987). The psychophysiology of confession: Linking inhibitory and psychosomatic processes. J Pers Soc Psychol 52:781-793.
[7] Campbell, R. S. & Pennebaker, J.W. (2003). The secret life of pronouns. Flexibility in writing style and physical health. Psychol Sci 14:60-65.
[8] Pennebaker, J. W. & Seagal, J. D. (1999). Forming a story: The health benefits of narrative. J Clin Psychol 55:1243-1254.
[9] Sommerfeld, S. (2013) „Schreib dich gesund!“ Expressives Schreiben als Ressource bei Frauen und Männern im Umgang mit traumatischen Belastungen. Wege zum Menschen, 65(4), 320 – 329.
[10] Gräßer, M., Martinschledde, D. & Hovermann, E. (2020). Therapie-Tools Therapeutisches Schreiben. Weinheim: Beltz.
[11] Schreiber, B. (2022). Schreiben zur Selbsthilfe: Weil Worte wirken: Glück erleben – gesund sein. Berlin, Heldeberg: Springer. 
[12] Schulte, B., Schulte-Steinicke, B. & von Werder, L. (2011). Die heilende Kraft des Schreibens. Ostfildern: ‎ Patmos Verlag.
[13] Pennebaker, J. W., Beall, S.K. (1986). Confronting a traumatic event: Toward an understanding of inhibition and dis-ease. J Abnorm Psychol, 95, 274–281
[14] Müller-Degenhardt, F. (2021). Schreibtherapie: Über das Schreiben von Briefen an unser Zukunfts-Ich. Verfügbar unter https://www.qiio.de/schreibtherapie-ueber-das-schreiben-von-briefen-an-unser-zukunfts-ich/ (abgerufen: 10.12.2022, 18:15)