„Neurowissenschaftler haben es gelöst: Der freie Wille ist nur eine Illusion unseres Bewusstseins.“
YVONNE FRIEDRICH. Wie oft wurden wir schon von Schlagzeilen dieser Art enttäuscht. Der nächste Artikel belegt dann das genaue Gegenteil. Wissenschaftlich erscheinen sie beide nicht. Ja – nein – vielleicht – oder doch nicht? Was ist es denn, das die Erforschung der Willensfreiheit so schwer macht? Welche Ansätze gibt es bisher? Und warum hat es in den letzten Jahren kaum Fortschritte gegeben?
Ich habe mich mit Prof. Dr. Kai Kaila, einem Neurobiologen der Universität von Helsinki, zusammengesetzt, um den Implikationen und Fallstricken von Willensfreiheit, möglichen Leib-Seele-Modellen und dem Verständnis von Bewusstsein auf den Grund zu gehen.[1]
Gibt es einen freien Willen?
Die erste ernüchternde Antwort, die mir Prof. Kaila geben musste, war eine entschiedene Absage an die ontologische Erforschung der Willensfreiheit. „Nein, ob es einen sogenannten freien Willen gibt oder nicht, das kann weder die Neurowissenschaft noch eine andere empirisch arbeitende Wissenschaft herausfinden.“ Die Frage nach dem Was, nach der Art und Existenz, sei eine ontologische und somit philosophische. Neurowissenschaft könne nur das Warum, also mögliche Funktionen oder evolutionäre Hintergründe, oder das Wie, also zugrundeliegende Prozesse, erforschen.
Was meint Willensfreiheit?
Doch bevor wir uns ganz Prof. Kailas Antworten widmen, ein paar Grundlagen vorneweg: Was meinen wir eigentlich, wenn wir über Willensfreiheit sprechen?
Im Allgemeinen nehmen wir an, dass Entscheidungen, die wir als frei einstufen, drei Bedingungen erfüllen: Erstens soll es uns unter identischen Ausgangsbedingungen möglich sein, anders zu entscheiden. Zweitens möchten wir selbst Urheber der Entscheidung oder Handlung gewesen sein – und keine äußeren Kräfte. Und drittens soll sich diese Urheberschaft in bewussten mentalen Prozessen manifestieren und nicht nur Folge unbewusster Prozesse unseres Gehirns sein.
Wieso widersprechen sich Determinismus und Willensfreiheit (nicht)?
Vor allem die Vorstellung alternativer Entscheidungsmöglichkeiten steht im klaren Widerspruch zu einem deterministischen Weltbild: Laut dem Determinismus ist alles, was in der Welt geschieht, kausale Folge vorangegangener Ereignisse und wird eindeutig durch sie bestimmt. So wie wir beispielsweise genau rekonstruieren können, warum eine Brücke eingestürzt ist, so wären rein theoretisch alle vorangegangenen Faktoren bestimmbar, die unsere Handlungen alternativlos erscheinen lassen. Nehmen wir an, wir sehen das Licht einer grünen Ampel. Die eingehende sensorische Information wird bestimmte Nervenzellen zum Feuern bringen, diese werden weitere Nervenzellen erregen, einige andere inhibieren und immer so weiter, bis am Ende der Kausalkette das Motorprogramm eine Bewegung unserer Beine initiiert. Dabei wäre das Feuermuster der Neuronen durch die sensorische Information bestimmt und die Struktur des neuronalen Netzwerkes durch unsere Gene sowie vorherige Erfahrungen.
Übrig bleibt dabei die Frage: Wo ist da noch Platz für einen freien Willen? An welcher Gabelung könnte der freie Wille „eingreifen“ und eine alternative Entscheidung veranlassen? Auch auf diese Zweifel hat Prof. Kaila eine klare Antwort: „Niemand hat bisher einen vollständigen Determinismus nachgewiesen. Deshalb sehe ich keinen Grund, nicht an einen freien Willen zu glauben.“
In der wissenschaftlichen Praxis wird von einer deterministischen Verursachung ausgegangen und nach kausalen Effekten und Reaktionsketten geforscht. Doch widerspricht es eben der alltäglichen Erfahrung persönlicher Willensfreiheit. „Auch in der Physik gibt es konkurrierende, nicht kompatible Theorien. Die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik sind beide fundamentale physikalische Modelle und passen in keinster Weise zusammen. Die meisten Physiker sind trotzdem glücklich damit.“
Natürlich würde ein freier, von außen teilweise unabhängiger, Wille in starkem Kontrast zu einem ansonsten streng deterministischen System stehen. Ungeklärt bleibt daher, wie ein solches Einwirken aussehen sollte und vor allem woher dieser unabhängige Wille stammen würde. „Da gebe ich lieber zu, keine finale Antwort zu haben, als vorschnell Theorien zu propagieren. Viele Menschen sehen hier ihre Chance, Religion in Bereiche der Wissenschaft einzuschleusen, die noch nicht erklärt werden können. Sir John Eccles war zum Beispiel der Meinung, dass Gottes Wille durch kortikale Säulen auf den Menschen einwirkt. Eine eher seltsame Vorstellung.“
Für Prof. Kaila liegt der beste Grund für einen freien Willen auf gesellschaftlicher Ebene: „In dieser Angelegenheit bin ich Pragmatiker. Unsere persönliche Überzeugung von der oder gegen die Existenz eines freien Willens ist etwas sehr Grundlegendes. Es bestimmt unser Welt- und Menschenbild und somit unser Verhalten in der Gesellschaft. Wenn Probanden in Experimenten zum Beispiel von einem unfreien Willen überzeugt werden, verhalten sie sich egoistischer und aggressiver. Wenn man Menschen dagegen in eine Gruppe bringt, die von Selbstverantwortung und Altruismus geprägt ist, dann verhalten sie sich selbst auch altruistischer. Solange wir nicht genau wissen, was stimmt, gehe ich lieber von einem freien Willen aus und bringe nicht das ganze Moral- und Rechtssystem zum Einsturz.“
Verschiedene Arten von Freiheit
In der Willensdebatte kann Freiheit allerdings sehr unterschiedlich definiert werden. Es sei ein häufiges Missverständnis, dass es keinen freien Willen geben könne, weil soziale Konventionen, Regeln und Gesetze unser Handeln bestimmen, meint Prof Kaila. „Das wir nicht alles tun können, was physikalisch möglich ist, steht natürlich außer Frage.“ Willensfreiheit wird in den Sozialwissenschaften häufig anders verwendet als in den Neurowissenschaften. In den Sozialwissenschaften meint ein freier Willensakt meist einen Idealzustand völliger Unabhängigkeit von (sozialen) Determinanten. Den Neurowissenschaften ist eine stärkere oder schwächere Abhängigkeit von sozialer Umwelt erst einmal egal. Hier geht es um die Frage eines lückenlosen biologischen Determinismus gegenüber der prinzipiellen Möglichkeit alternativer Handlungen – sei die Bandbreite auch noch so klein.
Leib-Seele-Modelle
Schon vor vielen tausend Jahren haben sich Philosoph*innen über Willens(un)freiheit den Kopf zerbrochen. Ein Knackpunkt stellt dabei das sogenannte Leib-Seele-Problem dar. Dieses wird durch drei Annahmen charakterisiert, die auf den ersten Blick alle korrekt erscheinen, aber nicht gleichzeitig wahr sein können:
Wenn wir annehmen, dass die physikalische Welt einem strikten Determinismus folgt, in dem jedes Ereignis von vorherigen Ereignissen bestimmt wird, müsste der Wille, um als (teilweise) frei von äußeren Determinanten zu gelten, außerhalb der physikalischen Welt existieren. (1) Mentales Geschehen wäre also etwas substanziell Anderes als physikalisches. Die Annahme zweier unterschiedlicher Entitäten nennt sich Dualismus. Nehmen wir weiterhin an, dass (2) mentales Geschehen kausal in den Bereich des Physikalischen einwirkt, kann die letzte Annahme (3) einer kausal geschlossenen physikalischen Welt nicht mehr gelten. Letztere ist aber eine klare Implikation des Determinismus‘.
Verschiedene Leib-Seele-Modelle versuchten einzelne Annahmen zu verneinen oder zu umgehen, um das sogenannte dualistische Trilemma zu lösen. Historische Modelle umfassen u.a. den Interaktionismus (R. Descartes) und den Parallelismus (G. W. Leibniz). Neuere Modelle unterscheiden sich vor allem darin, dass sie die dualistische Annahme zweier unterschiedlicher Entitäten verwerfen und die mentale Entität entweder verneinen oder anders umschreiben. Prof. Kaila meint: „Um heute etwas auf die Bühne zu bringen, muss man schon Monist sein, also von der Existenz nur einer Entität ausgehen.“ Beispiele sind der eliminative Materialismus (D. C. Dennett), die Identitätstheorie (J. Smart, U. Place), der Funktionalismus (H. Putnam) oder die Emergenztheorie (J. Searle).
„Im Grunde genommen scheitern all diese Theorien“, resümiert Prof. Kaila. Am überzeugendsten finde er noch die Argumentation von John Searle, der vor allem seine Vorgänger kritisiere. Er schlägt stattdessen die Emergenztheorie vor. Diese beschreibt, dass aus der Interaktion von physikalischen Faktoren etwas qualitativ Neuartiges entstehen kann, das nicht allein durch seine Ausgangsfaktoren erklärt werden kann. „Das ist so wie in der Chemie, wenn Sauerstoff und Wasserstoff zusammenkommen und plötzlich sehen wir Wasser.“ Allerdings muss Prof. Kaila zugeben: „Ich denke nicht, dass die Emergenztheorie viel erklärt. Es ist mehr eine gute Beschreibung. Im Alltag sind wir wahrscheinlich alle Dualisten, weil es bisher eben keine zufriedenstellende Lösung gegeben hat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Neurowissenschaften uns eine geben würde. Wir wissen ja nicht einmal, welche Fragen wir stellen und erforschen sollen, um uns dem ontologischen Was von Bewusstseinanzunähern. Wir tappen völlig im Dunkeln.“
Bewusstsein
Die Diskussion um das Mentale als eine andersartige Entität bringt uns also zur Charakterisierung unseres Bewusstseins. Ein freier Wille erfordert zwangsläufig ein Bewusstsein, in dem Möglichkeiten bewusst abgewogen und gewichtet werden können. Unser Bewusstsein umfasst dabei aber noch viel mehr. Es macht unsere komplette Lebenswelt aus! Ohne Bewusstsein haben wir weder Zugriff auf äußere noch auf unsere eigenen inneren Zustände.
„Interessant ist dabei, dass unser Bewusstsein seriell arbeitet, während die restliche Verarbeitung im Gehirn parallel stattfindet.“ Schauen wir uns ein fahrendes Auto an, so werden unterschiedliche Eigenschaften wie Farbe, Form und Bewegungsrichtung zur selben Zeit in unterschiedlichen Gehirnregionen analysiert. Am Ende nehmen wir bewusst ein ganzheitliches Objekt wahr – und zwar nur eines zur selben Zeit. „Basierend auf sensorischen Informationen, bisherigen Erfahrungen und Erwartungen kreiert unser Gehirn ein Modell der Wirklichkeit, von dem uns immer nur ein ganz kleiner Teil bewusst ist.“
„Das Bewusstsein kann man sich wie eine Plattform vorstellen, die verschiedene Ideen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedächtnisinhalte beinhalten kann. Dabei verwenden wir oft die Metapher eines Scheinwerferlichts, das je nach Aufmerksamkeitslenkung analysierte Aspekte mal aus diesem oder jenem Areal beleuchtet.“ Wie die Informationen dann zusammengebracht werden oder wie das „Scheinwerferlicht“ gelenkt wird, sind allerdings noch ungeklärte Fragen.
„Ich halte die Erforschung neurophysiologischer Prozesse, die kognitiven Vorgängen zugrunde liegen, für deutlich vielversprechender als die der Willensfreiheit.“ Spannende Beobachtungen kann man zum Beispiel machen, wenn sich der Zugriffsbereich des Bewusstseins verändert. Durch Training, Meditation oder Drogen können wir plötzlich Zugang zu Vorgängen erhalten, die wir vorher nicht bewusst erleben konnten. „Ich kenne Menschen, die beispielsweise das luzide Träumen erlernt haben, ihre Träume also bewusst wahrnehmen, lenken und kontrollieren können.“
Andersherum kann das Bewusstsein auch Zugänge oder Informationen verlieren. Agnosien sind eine Gruppe neuropsychologischer Störungen, bei denen aufgrund zentralnervöser oder entwicklungsbedingter Schädigungen bestimmte Sinnesverarbeitungen nicht mehr funktionieren. Bei Prosopagnosie handelt es sich beispielsweise um die Unfähigkeit Personen an ihren Gesichtern zu erkennen und bei der Bewegungsagnosie um eine Beeinträchtigung des Bewegungssehens. „Interessant ist dabei, dass das Bewusstsein meist nicht verrät, dass diese Information fehlt. Sie wird aufgefüllt oder einfach nicht vermisst. Betroffenen fällt es häufig schwer, den kognitiven Defizit von allein direkt zu erkennen.“
Können Roboter Bewusstseinszustände entwickeln?
Auf die Frage nach möglichem Bewusstsein von künstlicher Intelligenz reagiert Prof. Kaila mit einem entschiedenen „Nein“. Im Verständnis von Bewusstsein und Willensakten müsse die Eco-Evo-Perspektive eingenommen werden. Wir Menschen und Tiere seien Produkte unserer Evolution und darauf angepasst, in bestimmten Umwelten zurechtzukommen – und nur so könnten unsere Funktionen verstanden werden. Diese mehrere Millionen Jahre lange Geschichte könne man nicht einfach überspringen und das gegenwärtige Produkt nachbauen. „Maschinen werden niemals echte Gefühle haben. Natürlich können Gefühlsreaktionen wie beim Schmerz simuliert werden, aber der subjektive, qualitative Teil wird immer fehlen.“ In diesem Fall scheint es schwer, eine dualistische Perspektive zu umgehen.
Haben Tiere Bewusstsein?
Bei dieser Frage weist Prof. Kaila auf sehr intelligente Tiere wie zum Beispiel Krähen und Papageien hin. Sie können Werkzeuge nutzen, sind zu deduktiven Schlussfolgerungen fähig, kooperieren und verstehen es sogar, andere Vögel zu täuschen. Täuschung und Kooperation erfordern im Allgemeinen eine Art Theory of Mind, also die Annahme, dass man selbst und andere mentale Zustände haben, die sich gleichen oder unterscheiden können. Krähen würden sich zumindest so verhalten, als hätten sie diese Vorstellung. Sie verwenden verschiedene Strategien, um Futterdiebe auszutricksen – allerdings nur, wenn sie selbst schon einmal Futter aus einem fremden Versteck stibitzt haben. „It takes a thief to know a thief“, sagt Prof. Kaila und lacht.
Mit absoluter Sicherheit könne man die Frage natürlich nicht beantworten. Letztendlich ist uns das nicht einmal bei unserem menschlichen Gegenüber möglich. Das subjektive Gefühl von Bewusstsein und Willensakten bleibt immer eine ganz persönliche Erfahrung, auf die niemand anderes Zugriff hat. Dies schließt natürlich nicht aus, dass wir im Alltag permanent überlegen, welche Intention oder Gedanken hinter der Handlung eines anderen stecken könnten. Bisher gibt es allerdings keinen wissenschaftlichen Test dafür, ob jemensch oder jetier ein Bewusstsein derselben Art hat. „Im deutschen Sprachraum gibt es dazu die Idee der Du-Evidenz: ‚Weil Du mir so ähnlich erscheinst, nehme ich an, dass Du so ähnlich funktionierst wie ich.‘ So ist der stärkste Prädiktor, ob ein Philosoph von Bewusstsein bei Hunden ausgeht, die Tatsache, ob er selbst mal einen Hund als Haustier hatte. Demgegenüber müssen wir bei solch intuitiven Urteilen natürlich vorsichtig sein, weil Menschen die starke Tendenz besitzen, Intention und Menschlichkeit in Dinge zu interpretieren, die ganz klar nicht-menschlich sind. Wie zum Beispiel im Masken- oder Puppentheater.“
Nehmen wir die evolutionäre Perspektive ein, hat sich die Annahme der Theory of Mind in unserem Zusammenleben und insbesondere der Vorhersage der Handlungen anderer bewährt. „Die Menschen sind eine äußerst soziale Spezies und haben es vor allem durch Kooperation geschafft zu überleben. Daher scheinen Bewusstsein und Theory of Mind wichtige Funktionen in unserer Lebenswelt zu übernehmen.“
Nehmen wir aufgrund der dargestellten Evidenz ähnliche höhere kognitive Funktionen bei Vögeln wie bei Menschen an, scheinen sich diese unabhängig voneinander entwickelt zu haben. „Konvergente Evolution nennt sich das. Unsere einzigen gemeinsamen Vorfahren mit Vögeln sind Reptilien. Bei diesen wurde allerdings noch nichts beobachtet, was auf komplexe Gedankengänge rückschließen lässt. Wenn die Evolution die gleichen höheren Funktionen, wie beispielsweise Bewusstsein und Theory of Mind, unabhängig voneinander mehrmals hervorgebracht hat, scheinen sie von einzigartigem Wert zu sein.“
Prof. Dr. Kai Kaila arbeitet seit mehr als 50 Jahren in der Wissenschaft und hat bisher keinen Tag davon bereut. Er ist Leiter des Labors für Neurobiologie an der Universität von Helsinki sowie Gründer und Koordinator des Promotionsprogramms „Brain and Mind“. Ursprünglich ausgebildet in der Tierphysiologie ist er ein großer Freund und Förderer der Interdisziplinarität. Obwohl er sich hauptsächlich mit molekularen und elektrophysischen Vorgängen in Nervenzellen und Netzwerken beschäftigt, berücksichtigt er gern gesellschaftliche, medizinische und psychologische Perspektiven. Aktuell forscht er u.a. zu Epilepsie und birth asphyxia, einer pathologisch verlängerten Sauerstoffdeprivation während der Geburt, die möglicherweise strukturelle Grundlagen für die spätere Entwicklung psychiatrischer Störungen legt.
[1] Alle Antworten wurden von der Autorin vom Englischen ins Deutsche übersetzt und von Prof. Kaila bestätigt.